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Ausgewählter Beitrag

Die Last der vielen Momente

Ein paar Gedanken darüber, wie es sich anfühlt, eine Rolle zu spielen. Eine Rolle, die man sich im Leben nicht aussuchen konnte. Darüber, warum diese Rolle schwerer ist, als die meisten ahnen ... 


Heute waren wir auf einer Art Mittelalter-Spektakel. Ein ganzes Dorf wird zum militärischen Feldlager. Wachen an den Toren der Stadt. Vor der Stadt das fahrende Volk, die Dirnen und zwei Lager. In der Stadt die Bauern, Horden, Studenten, das Volk, das Lazarett, der Rat, die Handwerker, Landsknechte und viele weitere. Es war ein wunderbarer Tag. Und obwohl es so heiß war, haben wir alles genossen, viel gesehen, viel erlebt. 

Mal zum Thema Transition: oft hört man ja die Frage "ja, und warum bleibst Du nicht weiter eine Frau? Du kannst alles erreichen, was ein Mann auch kann". Ob das stimmt, sei mal dahingestellt (ich wage zu behaupten "nö", aber das gilt auch umgekehrt). Aber es sind die Dinge im Alltag, deretwegen ich mich dazu entschieden habe. Es ist nicht der Personenstand m im Ausweis. Nicht der männliche Name. Und es ist nicht der Bart im Gesicht oder die tiefere Stimme. Es ist das Gefühl, im Alltag einfach nicht als der erkannt zu werden, der ich bin. Es tut weh, wenn die Menschen mich nicht sehen. Wenn sie jemand anderen sehen. Ich muss von innen diese Hülle steuern. Es ist, als wäre ich ein Bewusstsein in einem fremden Körper. Sitze im Hirn, gucke durch meine Augen und muss immer die richtigen Knöpfe und Hebel drücken und die richtigen Sätze sagen. 

Man stelle sich vor: das eigene Bewusstsein wird in den Körper eines Kindes gepflanzt. Eines anderen Menschen. Oder in wen auch immer. Und der Gegenüber sieht immer nur diese Roboterhülle und handelt entsprechend. Egal, wiesehr Du innen drin schreist. 

Es bringt nichts, wenn ich wütend auf die Leute werde. Denn die sehen meine Hülle und verhalten sich ihr gegenüber freundlich und höflich. Sie trifft keine Schuld. Aber es stimmt traurig. Und führt dazu, dass ich an ansonsten traumhaft schönen Tagen wie heute immer wieder einen Stich in der Seele spüre, der mich innehalten lässt. 

Durchatmen, nicht aggressiv werden, der kann nix dafür. Durchatmen, nicht persönlich nehmen. Durchatmen, nicht traurig sein. Durchatmen. Vergessen. Mich auf das Schöne konzentrieren. 

Die Wachen am Tor stimmen die Leute auf das Fest ein. Reißen nette Späße, kassieren (freiwilligen) Pflasterzoll, man kommt leicht ins Gespräch mit ihnen. Der Wächter meinte "komm, gib ihm (mein Mann) Deine Kamera, dann stell Dich zu mir, ist ein viel besseres Bild". Aber das wollte ich nicht, es ist nur der Roboter, das Ich-Bewusstsein dahinter will nicht auf Fotos, weil sie die Realität verzerrt darstellen. Das versteht dieser sympathische Mann nicht, er guckt irritiert, warum ich mich winde und keine passende Antwort finde. 

Weil es auf diesem Fest auch etwas derber werden durfte, wir sind ja erwachsen, zeigte er mit stolzgeschwellter Brust auf sich selbst, meinte augenzwinkerd an meinen Mann gerichtet "dann hat sie mal ´nen RICHTIGEN Mann im Arm". War witzig. Und mein Mann hat gelacht, tat empört, schubste ihn spaßhalber, ich lachte auch, war ja witzig. Aber mir war klar, dass er mich absolut als Frau sah, dass er schäkerte, und mit sowas kann ich partout nicht umgehen. Er meinte dann gespielt traurig "ich hätt mich so gerne mit DIR fotografieren lassen" und zwinkerte. Wir haben alle drei gelacht: der Wächter, mein Mann und der Roboter. Meine Seele hat bitterlich geweint (und dann durchgeatmet und sich am Fest gefreut, ich will mir die Freude nicht wegen sowas verderben lassen).

Später standen wir vor dem Zelt der Dirnen. Ich las mir die Namen durch, zB Laritschka von Feuchtenstein, Beatitschka von Zipfelbach, Iritschka von Hodenberg-Flohhausen, mein Mann und ich haben uns köstlich amüsiert. Kam einer aus dem Lager, auch er spielte nur seine Rolle, und meinte zu mir "neeeeee, weg da, das ist nur für Männer, nicht für Frauen".

Mir rutschte leise raus "ja, seh ich denn aus wie ´ne Frau?". Ich trug kurze Hosen, meine Beine waren mindestens so behaart wie die eines Durchschnittskerls (bin kein Bär, aber ich habe viele Männer mit weit weniger gesehen heute). Und dank Binder wirkte meine Brust so flach und stramm wie die eines trainierten Sportlers. 

Der Mann hatte mich nicht sprechen hören, und doch hatte er mich als Frau gesehen. Ist nichts Schlimmes dabei, mag man denken. Aber wenn das gefühlte Bewusstsein einfach nicht zu dieser leblosen Roboter-Hülle passt, dann führt das immer wieder zu Traurigkeit. 

Mein ganzes Leben bisher war ein Spiel. Ich spielte diese Rolle, musste mich rollengerecht verhalten. Immer überlegen "was würde eine Frau jetzt sagen". Ich habe das gelernt, war zwar nie zufrieden damit aber kam irgendwie schon klar. Um zu wissen, wie eine Frau sich verhält, muss ich andere Frauen beobachten, lernen wie sie zu denken, lernen mich wie sie zu bewegen, selbst eine zu sein, aber das wollte ich nie. Und deswegen habe ich es nicht gelernt, und deswegen fühle ich mich oft wie ein Außenseiter. Was sagt eine Frau, wenn sie weggeschickt wird, weil sie kein Mann ist? Wie reagiert eine Frau, wenn ein Mann mit ihr flirtet? Ich wollte es nie lernen.

Dann habe ich mich entschieden, MEINEN Weg zu gehen. Nicht den Weg meines Körpers, sondern den Weg meines Bewusstseins. Seitdem fallen mir solche Momente umso stärker auf. Weil das Bewusstsein, das so lange im Autopilot lief, endlich selbst denken und handeln darf. Und nachdem ich es im Privaten und bei Freunden freigelassen habe, will es sich auch in der Öffentlichkeit nicht mehr unterordnen. Wie soll ich diesen Löwen bändigen? 

Ich kann es nicht erwarten, bis ich endlich Testo kriege. Ja, mir sind mögliche Risiken bewusst. Ja, mir ist klar, dass ich nicht zwangsläufig zu dem Traummann werde, als der ich mich fühle. Aber ich will endlich einen männlichen Roboter! Damit ich nie wieder Theater spielen muss. 

Wir alle spielen Theater. "Ja, Schwiegermami, das Essen war toll", "ja, Chef, das sehe ich ganz genauso", "nein, Schatzi, Du bist nicht dick", "ooh, danke, Tante Luise, ich wollte schon immer eine Makramee-Eule für mein Wohnzimmer". Das sind Momentaufnahmen. Aber ein Leben lang tun zu müssen, als wäre man eine andere Person ... das ist eine Last, die keiner nachvollziehen kann, der es nicht selbst erlebt. 

Schlüpf mal in eine Rolle, zB beim Fasching, beim Laientheater, beim Larp-Fest, im Computerspiel, im Pen and Paper. Das ist toll. Mal jemand anders sein. Aber jetzt stell Dir vor, Du könntest diese Rolle niemals wieder verlassen. Wärst mit ihr verwachsen, und diese Dir fremde Person, wäre auf einmal Dein Schicksal, Dein Leben, Deine Hülle. Mit Dir selbst innendrin. Du möchtest als am Wiesenfest mit Bändern im Haar tanzen, aber statt dessen drückt man Dir eine Armbrust in die Hand. Du möchtest an diesem Sport-Wettbewerb teilnehmen, aber Teilnahme für Frauen verboten. Du willst in der Kirche ein Amt ausüben, aber das ist Männern vorbehalten. Du willst ins Baumhaus, aber Mädels haben dort oben nichts verloren. Du begehrst sie, aber sie steht nur auf Männer. Du möchtest diese hübsche Dauerwelle, aber statt dessen hast Du eine Vollglatze. Du möchtest ein Kind gebären, aber leider fehlt Dir die Gebärmutter. Du willst tief in einer Frau sein, aber Du hast keinen Penis. 

Selbst Schauspieler, die immer als ein spezieller Charakter gesehen werden, sind irgendwann genervt, egal wie heißbegehrt dieser Charakter sein mag (Harry Potter, Dr Who, Iron Man, etc), auch sie wollen nicht reduziert werden auf ihre Rolle und wollen als Individuum gesehen werden.

Wenn Du diesen Beitrag liest, denkst Du Dir "naja, ist harmlos, man kriegt halt nicht immer, was man haben will". Oder etwas platter "jaaaa, wär schon cool, mal einen Tag Frau sein, dann kann ich mit denen unter die Gemeinschaftsdusche und heimlich spannen". So würde ich auch denken, weil es nur eine Momentaufnahme ist. Aber diese Momentaufnahme ist mein Leben. Aus einer Momentaufnahme werden viele Momente, werden Monate, Jahre, Jahrzehnte, und die Länge trägt die Last. Abertausende kleine Momente stapeln sich in meinem Kopf, in meiner Erinnerung, und mit jedem Moment, der sich aufhäuft, wird der Berg schwerer und schwerer. Es gibt Menschen, die zerbrechen unter dieser Last an Momenten ... 

2heartedman 05.07.2015, 21.00

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von

danke.
Seit ich 9 Jahre alt war, bin ich so ein Roboter gewesen. Ich hab immer gedacht, komisch, ich bin zwar immer neben den anderen Jungs und Mädels, bin an den selben Orten, auf den selben Veranstaltungen, durchlebe die selbe Freizeit, doch immer war da so einen Art Glasscheibe zwischen mir und der echten Welt. Ich war eigentlich immer mehr ein total verwirrter Beobachter, der fremdgesteuert lebte, um in kein Fettnäpfchen zu treten.
Dein Bild oben mit den ganzen Knöpfen mit denen man die Hülle steuert, das hat mich an die Tesselekta erinnert, aus Doctor Who. Man sitzt innen drin, ganz klein, und tut und macht, und schaut durch die Augen des Roboters nach draußen auf die Welt. Nur halt nicht zum Spaß mal eben, sondern immer, überall, zu jeder Zeit.
Ich finde deine Beschreibung toll, so nah an meinem Empfinden hat das bisher noch niemand wiedergegeben.


vom 22.05.2017, 10.44
Antwort von 2heartedman:

Freut mich, wenn Du diese Beschreibung magst und etwas damit anfangen kannst :-) 
Ja, die Tesselekta gingen mir auch oft durch den Kopf, ich fand diese Folgen großartig, sehr bildhaft und auch beängstigend ...
1. von Jamie

Ich muss schon wieder einen Kommentar da lassen, einfach weil mich dein Text so sehr gerührt hat... Toll geschrieben!
Ich wünsche dir, dass du nicht unter der Last der Momente zerbrichst, und Testo für dich viel Gutes bringt (und nur Gutes).
Viele Grüße!

vom 05.07.2015, 22.56
Antwort von 2heartedman:

Momentan komme ich mit den Momenten und der Länge der Last (noch) gut klar. Hoffe, dass es in ein paar Monaten noch genauso ist ... danke für Deine lieben Worte :-)