two hearted man
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Willkommen in meinem Hirn

Arzttermin. Ich wusste, dass ich Zug fahren muss, dass viele Menschen um mich sein werden. War gewappnet, hatte Handy Musik Ebook Pfefferminz alles parat. Habe super durchgehalten heute.

Es hat geregnet, es ist heiß, es ist schwül. Ich steppte in der Uniklinik die Treppen vom Untergeschoss in den dritten Stock und wieder runter und wieder nach oben und wieder runter. Wartete fast eine Stunde bis zur Blutentnahme und nochmal eine halbe Stunde in der Frauenklinik wegen einer Terminvereinbarung. Auf dem Weg von der Klinik zum Bahnhof gießt es in Strömen, und mein Schutzwall fängt langsam an zu bröckeln, es ist schwer, ihn mehrere Stunden aufrecht zu erhalten. Endlich sitze ich im Zug. Ruhig bleiben, ablenken, alles wird gut *ooommmmmm* ...


ALDA DANN HAB ICH AYSE VOLL MIT DIE FAUST IN DER IHRE FRESSE UND DIE HAT GEHEULT, HAHA, WIE BABY, DIE SCHLAMPE ... wer ist das denn? Ah, schräg gegenüber, so ein hübsches Mädchen, so eine vulgäre Sprache, dazu die schrille Stimme. Wie aufdringlich, schmerzt im Ohr ... ih, irgendeiner hier hat heute früh kein Deo verwendet, danke auch ... Lesen oder Musik hören? Das Buch ist spannend, möchte weiterlesen ... BITTE EINSTEIGEN DER ZUG FÄHRT VORSICHT AUF BAHNGLEIS 4 ... die da drüben packt ihre Brotzeit aus, Aluminium, raschelraschel, das macht mich nervös, mach schneller, das Geräusch ist schrecklich! ... UND DIE HAT VOLL GEBLUTET, ALDER, UND DER KEVIN HAT MIR DANN ... mein Schuh drückt, er ist neu und noch nicht eingelaufen, ich bewege meinen Fuß ... 

das Kind da hinten hat scheinbar Hunger, so wie es quäkt ... Oh Gott, der Typ da, hoffentlich setzt der sich nicht neben mich ... "Ihre Mutter hat kein Vermögen und meines Wissens existiert auch keine reiche Erbtante, für die es sich lohnt, in die Identität eines anderen zu schlüpfen. Der Meinung war Dieter vorgestern Abend" (es wird immer spannender, ich versuche mich auf das Buch zu konzentrieren) ... ich werde nervös, kalter Schweiß bildet sich auf meiner Oberlippe, ruhig atmen, ruhig atmen, ich kenne das, ich schaffe das, ich sitze, mir geht es gut, ich habe mein Buch, ich bin fokussiert ... 

HERZLICH WILLKOMMEN IM ZUG DER DEUTSCHEN BAHN AUF DER STRECKE VON HIER NACH DA, WIR HABEN LEIDER ETWAS VERSPÄTUNG, DOCH ... hör auf zu reden, verdammt, ich will mich auf mein Buch konzentrieren! Die Worte des Schaffners schneiden in mein Hirn ... raschelraschel Aluminium ... plärr Hunger! ... EY UND DER LEHRER IST JA KRASS, DER HAT GESAGT ... "Eine Laune der Natur lässt Sie aussehen wie einen eineiigen Zwilling von Frank Miller. Wer weiß, vielleicht haben Sie denselben Vater?" oh mann, ich muss schneller lesen, ich muss endlich ausblenden, was um mich herum passiert, sonst dreh ich durch, sonst klappt das doch immer ... 

"Ist hier noch frei?" - Ich rutsche zur Seite, die Dame sieht nett aus, scheint gepflegt, wird wenigstens nicht stinken wie der Typ hinter mir, der grade auf dem Bahnsteig geraucht hat ... es wird eng um die Brust, der Binder drückt, klebriger Schweiß am Rücken, ich atme tief tief ein ... Pfefferminzkaugummi, einer von den extrastarken ... viel zu stark, das Hirn wird kurz durchgepustet, mein Hirn brauch Luft, atmen ... atmen ... 

TATÜÜÜÜÜ TATAAAAAAAA TATÜÜÜÜÜÜÜ TATAAAAAAAA irgendwo brennt es, oder ein Unfall, der Krankenwagen rast eine zeitlang neben dem Zug her ... Regen prasselt gegen die Scheibe ... die Frau neben mir ist gepflegt, aber ihr Parfum ist aufdringlich süß ... die Aluverpackung ist endlich fertig, aber jetzt wird an der Thermoskanne geschraubt, das quietscht, kann man Thermoskannen eigentlich ölen? ... SO EIN ASSI ALDA, MEINE MUDDA IST VOLL LÄSSIG DIE HAT DEM DANN EINFACH GESAGT ER SOLL SICH VERPISSEN, WO DER SO DA ... NÄCHSTER HALT BAHNHOF SOWIESO. SIE HABEN ANSCHLÜSSE AN DIE ZÜGE VON DA UND DORT AUF GLEIS DIESUNDJENES ... plärr immer noch Hunger ... quietschquietsch plätscher (Kaffeduft von irgendwo da vorne) ... der Zug rattert ... 

ich will lesen, aber ich schaffe es nicht, egal wie schnell ich lese, egal wie tief ich in das Buch abzutauchen versuche ... Kopfhörer, abschotten ... die Frau neben mir packt Käsecracker aus, mehrfach hartgebackenes Knäckebrot mit Nüssen und Käse überbacken ... DIE FAAAAAHRKARTEN BITTE, IHRE FAHRKARTE, DANKE, DER NÄCHSTE, IHRE FAHRKARTE ... der Sprecher meines Hörbuchs ist zu leise, ich habe bereits auf volle Lautstärke aber die Umwelt ist zu laut, ... die Räder rattern auf den Schienen ... ÜBERNÄCHSTE MUSS ISCH RAUS ALDA, WERDISCH ABGEHOLT VON MEINEM TYP, ABER REGNET VOLL DRAUSSEN, IST SCHEISSE ... ich wusste gar nicht, dass Käse so stinken kann, das ist doch nur billiges überbackenes Zeug auf einem Cracker ... ich wechsle von Hörbuch auf Musik, die kann ich vielleicht lauter drehen ... ne, dieser Song nicht ... nächster Song, auch zu leise ... oh ja, Metal, ordentlich laut, lauter geht nicht, aber besser als nichts ... 

KNUSPER KNUSPER KRACH KNACK KNUSPER ... oh Gott, die Käsecracker sind SO hart, dass sie lauter krachen als meine Metalmusik im Ohr ... atmen, atmen ... ich höre sie kauen, ich hasse Kaugeräusche neben meinem Ohr ... aus dem Fenster sehen, es regnet, die Landschaft zieht vorbei, meine Gedanken sind eine Wolke und ziehen vorbei ich lasse sie ziehen ... ruhig bleiben ... tief einatmen ... der eklige säuerliche Käsegeruch und das süßliche Parfum der Frau stehen in so heftigem Widerspruch, dass mir übel wird ... 

Normalerweise hilft Whatsapp, da bin ich abgelenkt beim Chatten, aber grade heute ist eine Störung bei der Telekom, kein Netz ... mein Handy ist ein wichtiger Begleiter geworden, nicht der Erreichbarkeit wegen, sondern als Schutzschirm gegen meine laute Umwelt ... mein Handy geht heute nicht ... ich fühle mich den Menschen um mich herum hilflos ausgeliefert ... 

KOMMSDU MORGEN VORBEI, JA, RUF ICH DICH WIEDER AN, SAGST DU WANN DU DABIST, ISCH WARTE AUF DISCH, OKAY, ALDA ... Augen schließen ... Kopf runter ... Meditationshaltung einnehmen ... Metal wummert im Schädel ... ich kann die Welt nicht ausblenden ... kaue auf meinem Pfefferminz, schmecke das scharfe Menthol, drücke es gegen das Zahnfleisch, es brennt, es tut gut, ich bin ganz bei mir, für ein paar Sekunden ... NÄCHSTER HALT BITTE AUSSTEIGEN ... 

ich stehe auf, eile ohne zu rennen zur Tür, um als erster sofort auszusteigen ... endlich angekommen ... der Bahnhof ist voll, die Züge fahren an und ab, es ist drückend schwül, mein Binder schnürt mir die Luft ab, aber der kalte Schweiß wird weniger, langsam komme ich wieder zurück zu mir, ich kann den Menschen auf dem Bahnsteig ausweichen, stelle mich an eine ruhige Ecke, ... warte ein wenig ... 

EDIT: Verzeihung, ich will mir keine fremden Zitate anmaßen. Die Ausschnitte stammen aus dem Buch "Alles bleibt anders" von Siegfried Langer. Sehr zu empfehlen. Und ich hoffe heute Abend in aller Ruhe zu erfahren, was es mit Frank und Dieter auf sich hat ;-)

2heartedman 13.06.2016, 16.16

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