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Wiesenfest

Wiesenfest, oh, das war jedes Jahr ein Graus. Ich habe mich gleichermaßen darauf gefreut wie mich auch davor gefürchtet!


Klar, auf das Fest an sich habe ich mich gefreut. Viele Buden. Zuckerwatte, Würstchen, gebrannte Mandeln, Zuckeräpfel, Popcorn und all dieser Süßkram, den Kinder lieben. Und Stände mit sinnlosem Nippes. Plastikpferdchen, Autos, Puppen, Modellflieger, Figürchen mit Fallschirm, Gummikrokodile und was die Umwelt sonst noch so verschmutzt. Und am besten die ganzen Fahrgeschäfte. Autoscooter, Kettenkarussell, Break Dance, Hüpfer, Berg- und Talbahn. Und Pferderennen mit Bällen, Dartpfeile auf Ballons, Losbuden, Ringewerfen, Schießbude. 

So sinnlos ich das heute alles finde, als Kind hätte ich dort hunderte von Mark lassen können, und ich wollte gar nicht mehr heim! Aber der Festumzug, das war der Horror schlechthin! Das ganze Jahr graute mir davor, was man mir wohl dieses Jahr anziehen würde, und jedes Jahr hoffte ich aufs Neue, dass ich mich irgendwie würde durchsetzen können zu einem schicken Hosenanzug oder irgend etwas, das nicht ganz so schrecklich weiblich wäre.

Von der Schule waren zwei Märsche vorgegeben. Einer Samstag, der andere Sonntag. Oder war es Sonntag und Montag? Egal, jedenfalls einmal der große Hauptmarsch von der Grundschule runter in die Stadt und dann von dort auf den Festplatz. Danach die Tänze der Mädchen und das Armbrustschießen der Jungs. Am nächsten Tag dann der kleine Umzug, einfach nur vom Festplatz auf den Schulhof. 

Was mir an diesem Prozedere gefiel, waren die gemeinsamen Lieder. Fichtelgebirgslied, Bayernlied, Frankenlied, Saalelied. Noch heute singe ich diese Lieder gerne, fühle mich heimatverbunden und liebe meine fränkische Heimat. Alle zusammen auf dem großen Schulhof, wie wir diese Lieder sangen. Wer weiß, vielleicht war ich das einzige Kind, das dieses Ritual toll fand, gut möglich *lol* (die anderen jammerten immer, wie scheiße sie es fanden, die Lieder lernen zu müssen).

Aber der Umzug. Mir wird übel, wenn ich daran denke!

Jedes Jahr die Frage, was ich diesmal tragen soll. Mal war es ein rosa Röckchen mit weißer Rüschenbluse, ein andermal war es ein langes blaues Kleidchen mit Stola und vielzuviel Tamtam. Fast alle Mädchen trugen Kleider oder Röcke, nur eines konnte ich auf alten Fotos von damals im Hosenanzug ausmachen. Es war einfach ein ungeschriebenes Gesetz, und es galt die anderen zu übertrumpfen. Vergleichbar dem Abschlussball der Tanzschule oder der Prom-Night in den Ami-Filmen. "Was sollen denn die Leute von mir denken, wenn Du nicht hübsch bist". Oh, wie ich dieses egoistische Denken in meiner Familie verabscheute! Was ich dachte, war egal, wichtig war, was "die Leute" dachten! Waren "die Leute" etwa mehr wert als ich? Da fühlt man sich gleich richtig geliebt ... 

Geschrei, Toben, Kämpfen, Schreien, widerwillige Anprobe, ´nen "Flunsch" ziehen  (ist das Dialekt oder altmodisch?), Diskutieren. Und am Ende immer wieder verlieren. Als Krönung der Demütigung gab es obendrauf ein Blumensträußlein, das ich in der Hand tragen musste. Und nicht vergessen: LÄCHELN! Denn überall am Straßenrand drängen sich in dichter Reihe alle Bewohner der Stadt. Ist ja sonst nix los, in diesem Kaff ist "die Katz gfreckt", also freuen sich alle, dass es mal was zu sehen gibt. 

Schön winken, lächeln, weiterlaufen, weg mit den Tränen, glücklich aussehen. Überall wird fotografiert. Die Fotos werden in der Schule öffentlich ausgehängt, und die Eltern können sich aus hunderten von Fotos ihre gewünschten Bilder nachmachen lassen. Auch in der Stadt werden die Bilder ausgehängt. Und in der Schulklasse wird noch mal verteilt. In der Familie auch noch. Überall dieses unglückliche Mädchen mit dem traurigen Gesicht und dem rosa Kleidchen, öffentlich zur Schau gestellt. 

Dann der nächste Horror: TANZEN! Mehrere Wochen vor dem Fest begannen in der Schule die Vorbereitungen. Die Jungs bekamen eine Armbrust in die Hand gedrückt und durften auf Zielscheiben schießen. Ich war so neidisch, ich liebe Schießen! Bin Pazifist, war ich schon als Kind. Aber Schießen ist Konzentration, Technik und verdammt faszinierend, Zielscheiben sind tot, da ist das okay. Nicht ein einziges Mal habe ich gefragt, ob ich schießen darf, ich kannte die Antwort, und ich wollte mir die Schande ersparen. Also musste ich tanzen. Das Röckchen drehte sich im Kreis, die Mädels reichten sich die Hände, wir wirbelten über die Wiese, schritten von hier nach dort und trippelten von dort nach hier. 

Kann mir einer sagen, was an Volkstänzen toll ist? Ich habe es nie verstanden. Aber ich musste es auch nicht verstehen. Ich musste es einfach tun und lächeln und glücklich aussehen. 

Der Festplatz wurde einige Wochen vor dem Fest aufgebaut. Überall standen die Zielscheiben, waren die Tanzflächen markiert. In meiner Freizeit fuhr ich mit dem Fahrrad oft auf diesen Platz. Stellte mich an die Zielscheiben. Maß die Schritte vom Schießstand hin zur Scheibe. Begutachtete die alten Einschusslöcher der dicken Bolzen. Stellte mir vor, wie ich an der Stange lehne, ansetze, ziele, abdrücke. Das Geräusch der Sehne, der Aufprall auf der Scheibe. Mitten ins Ziel! Und während des Festes stand ich mit großen Augen an der Abtrennung. Die Mädels sahen nach rechts, zur Tanzfläche. Und ich wandte den Kopf nach links. Und während die Mädels toll aussehen mussten und wie selbstverständlich auf dem Präsentierteller vorgeführt wurden, bekamen die Jungs sogar noch einen Preis für ihre Leistung!

Drittes Problem: die Kirche. 

Denn ein "Gottesdienst" ist "Gottes Dienst" an den Menschen. Mit anderen Worten, welches Recht habe ich wertloses Menschlein, abzulehnen, was Gott mir so großzügig anbietet? Uns wurde immer wieder eingeimpft, dass wir dem Kaiser geben müssen, was das Kaisers ist, und dem Herrn, was des Herrn ist. Also war es in Ordnung, dass wir auf das Wiesenfest gingen. Aber immer wieder wurde darauf hingewiesen, wieviel wertvoller der Gottesdienst sei. Und dass wir das Abendmahl versäumen, wenn wir auf dem Fest sind. Und was gar passieren könnte, wenn der HERR kommt, um die erwählten 144.000 zu holen, während wir auf dem Fest marschieren, weltliche Musik hören und uns amüsieren?!?

Da stand ich. Im niedlichen Kleidchen. Mit hübschem Blumensträußlein. Musste marschieren und tanzen und lächeln und winken. Alles in dem Wissen, dass meine Seele verloren war, falls genau in diesem Moment der HERR kommt. 

Glaubt mir, keine Zuckerwatte der Welt kann eine verletzte Kinderseele trösten, ...

2heartedman 19.07.2015, 14.09

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