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Vorurteile

In unseren Workshops geht es auch viel um Vorurteile. Und die Teilnehmer fragen uns Referenten dann oft "Habt Ihr selbst auch Vorurteile?"

Es geht ja auch nicht darum, dass Vorurteile prinzipiell schlecht sind. Wenn ein kleines Kind nicht mit dem fremden Mann auf der Straße mitgeht, dann ist das schonmal gut, selbst wenn 999 von 1000 fremden Männern keine Gefahr sein mögen. Wenn eine alte Frau einen weiten Bogen um eine Gruppe von lauten Jugendlichen mit Bierflaschen in der Hand macht, können diese Kids noch so harmlos sein, das Verhalten der Dame ist nachvollziehbar. 

Vorurteile basieren eben zum Teil auch auf Erfahrungen. Wenn jemand etwa von einem Hund gebissen wurde - vielleicht sagt der Verstand dann "hey, das war nur dieser eine Hund, der mich gebissen hat", aber trotzdem reagiert mensch mit Angst auf weitere Hunde. Gesund ist es, wenn man sich bewusst ist, woher diese Angst kommt und dass sie eigentlich unbegründet ist. Deswegen darf man ja trotzdem vorsichtig sein, man muss ja nicht gleich über alle anderen Hunde schimpfen und Hundehalter verteufeln.

Diskriminierend und schädlich wird es (meiner Ansicht nach) dann, wenn jemand unreflektiert andere Menschen / Wesen abwertend behandelt. Sich anderen Denkweisen versperrt und nur noch in seiner eigenen Blase lebt, unzugänglich für andere Argumente. 

Und ja, ich habe auch Vorurteile. Basierend auf Erfahrungen. Eine solche Situation hatte ich letztens am Bahnhof, und ich habe mich in Grund und Boden geschämt, als ich mir dessen bewusst wurde. 

Ja, es ist mir peinlich. Ich möchte es trotzdem teilen. Einfach um zu zeigen, wie menschlich das ist. Und dass es nicht möglich ist, vorurteilsfrei durch die Welt zu laufen. Aber dass wir eben darauf achten müssen, weiterhin offen zu bleiben. 

Objekt meines Vorurteils: Frauen osteuropäischen Aussehens, die mit Kinderwagen oder Kleinkind in der Stadt unterwegs sind und Passanten ansprechen.

Grund: im alten Job sehr viel mit den negativen Vertreterinnen zu tun gehabt. Und in der Stadt werde ich ständig mit ihnen konfrontiert. Sie werden oft in größeren Gruppen angekarrt und betteln dann auf aggressive Weise. Sprechen jemanden exakt dann an, wenn man vom Bankautomaten kommt oder am Fahrkartenschalter steht oder sich am Imbiss etwas gekauft hat und gerade das Wechselgeld wegpacken will. Zupfen oft am Arm, werden zudringlich. Deuten auf ihre kleinen Kinder, reden im weinerlichen Tonfall davon, dass sie Geld brauchen, Hunger haben, die Kinder leiden. Und da sie oft in größeren Gruppen agieren, kann es passieren, dass allein am Bahnhof auf einer Strecke von etwa 200 Metern ich fünfmal von verschiedenen Frauen angesprochen werde. Es ist laut, es ist voll, ich will meine Ruhe, und ich kann auch nicht den drei Punks, fünf Osteuropäerinnen, zwei Zeugen Jehovas, vier Bettlern, drei Obdachlosen, zwei Johannitern mit Spendendose und zwei Zeitungsverkäufern am Bahnhof allen ein freundliches Lächeln und ein paar Münzen oder meine Zeit und mein Ohr schenken, geht einfach nicht, so höflich ich auch sein mag. 

Verstand: diese Frauen haben ein hartes Schicksal in ihrem Land und würden sicher lieber arbeiten und zu Hause bei ihrer Familie sein. Ich habe in meinem alten Job erfahren, wie hart es für diese Frauen ist und welche Not hinter diesem Verhalten steckt. Kein Grund wütend zu werden auf diese Menschen, höchstens auf ein System, welches Menschen so unwürdig behandelt und dazu führt, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in einem fremden Land lieber freiwillig demütigen lassen als zu Hause Not zu leiden. 

Reaktion: ich versuche im Alltag einfach, den Bettlern, Punks, Osteuropäerinnen aus dem Weg zu gehen. Manchmal führt das zu einem recht aufwändigen Slalom. Aber ich kämpfe eh schon mit Reizüberflutung. Wenn mich dann alle paar Meter jemand anspricht und anbettelt, dann werde ich schnell gereizt und aggressiv, nicht wegen der Situation, sondern aufgrund der Überforderung an Reizen. Außerdem fühlt es sich mies an, ständig "nein" zu sagen. Augenkontakt auf jeden Fall meiden, weitergehen. 

Situation kürzlich: ich laufe durch den Bahnhof, bin bereits mehreren Punks ausgewichen (die sind immer sehr höflich, ihr Betteln ist nicht aggressiv, sie grüßen sehr nett und wünschen einen schönen Tag, trotzdem ist es anstrengend). Mehrere Frauen kamen auf mich zu und wollten mich anbetteln, aber auch hier konnte ich ausweichen. An diesem Tag war es mal wieder heftig, scheinbar kam da ´n ganzer Reisebus, der sich am Bahnhof und in die Altstadt verteilt hat. Ich will zum Zug, als eine dieser Frauen den Mund öffnet, Luft holt, mich ansieht, ansprechen will. Ich gucke demonstrativ weg, weiche aus, winke ab und laufe weiter. Aus dem Augenwinkel sehe ich dann, wie sie einen anderen jungen Mann anspricht. Der lächelt freundlich, packt mit an und hilft ihr, den Kinderwagen die Treppe raufzutragen!

Sie wollte nicht betteln. Sie wollte nur zum Zug und brauchte Hilfe, weil der Aufzug zu weit weg war. Und ich kann nicht sagen, wiesehr ich mich in diesem Moment geschämt habe. Das hat mich die nächsten Tage noch sehr lange beschäftigt. 

Ich stelle mir vor, dass das vielleicht eine junge Frau ist, die im Alltag oft ausgegrenzt wird, eben weil andere genauso denken wie ich. Die einfach auf der Straße stehengelassen wird, weil man bei "lange schwarze Haare, etwas dunklere Haut, weiter Rock, Kinderwagen" eben sofort an die typischen aufdringlichen Bettlerinnen denkt. Vielleicht weichen andere Leute ihr aus, weil sie Angst um ihre Handtasche haben. Verkäufer beobachten sie aus dem Augenwinkel, ob sie möglich etwas unter ihrem Rock oder im Kinderwagen versteckt. Die im Restaurant vielleicht nur nachlässig oder gar nicht bedient wird, weil man denkt, dass sie eh nicht zahlen kann. 

Meine Gedanken drehten sich immer weiter, als ich mir das so ausmalte. Und ich kam mir ziemlich elend vor. 

Ja, Vorurteile sind manchmal berechtigt und sinnvoll. Ich würde vermutlich wahnsinnig (und arm) werden, wenn ich am Bahnhof und in der Altstadt bei jeder Bettlerin stehenbleibe und mir ihre Geschichte anhöre, bevor ich entscheide, ob ich weitergehe oder ihr helfe. Reizüberflutung würde dazu führen, dass ich irgendwann schreiend über den Bahnhofsvorplatz renne!

Und ich bin mir auch bewusst, dass es lediglich Vorurteile sind, die ich gegen diese Menschen hege. Spräche diese junge Dame mich irgendwo an, wo nicht unzählige Bettlerinnen die Passanten belästigen, hätte ich sicher freundlich reagiert und abgewartet, was sie mir zu sagen hat. So aber war mein Verhalten einfach unterste Schublade. Nachvollziehbar, aber einfach nur peinlich. 

Ich weiß nicht, was ich zukünftig tun werde, wenn mich das nächste Mal wieder jemand anspricht am Bahnhof. Ich will nicht riskieren, wieder jemanden zu diskriminieren. Aber mein Verhalten ist ja auch Selbstschutz, weil zuviel Interaktion in Menschenmassen mich belastet (wenn eine ältere Dame auf mich zukommt, dann nehme ich die Kopfhörer raus und höre ihr zu, denn die bettelt nicht sondern möchte wissen, wo ein Zug fährt oder wie spät es ist; aber sie ist eher eine Ausnahme, da fangen mich nicht fünf Omas auf meinem Weg ab und zupfen mich am Ärmel). 

Ach, verdammt, es ist manchmal gar nicht so leicht, ... 

Ich denke, wichtig ist vor allem, dass man sich der Vorurteile bewusst und dass man fähig ist, sich nicht davon leiten zu lassen sondern immer wieder Entscheidungen im Einzelfall zu treffen.

2heartedman 10.11.2018, 18.06

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