Ein junger Mann steht mit freiem Oberkörper vor dem Spiegel im Bad. Er weicht den Bart mit duftender Seife ein, rasiert und stutzt und trimmt. Koteletten, Wange, Kinn, Oberlippe. Er arbeitet mit Trimmer und Klinge. Trägt frisches Aftershave auf, bereit für den Tag. Ein Bild, das man in der Werbung, in Filmen, in der Familie möglicherweise auch beim Mitbwohner / Vater / Bruder sieht. Ein ganz alltägliches Bild. 

Ich blickte in den Spiegel und sah eine fremde Frau. Und heute - steht plötzlich dieser junge Mann vor mir, blickt mich aus dem Spiegel heraus an. Und noch immer stehe ich ungläubig im Bad und kann es nicht fassen. 

Dieses Glücksgefühl morgens im Bad ist nicht in Worten zu beschreiben. Allein diese kurze Szene täglich morgens vor dem Spiegel ist es wert, diesen Weg gegangen zu sein. Einmal am Tag in den Spiegel sehen und sich selbst erkennen ... 

Ja, gewusst schon immer, aber zu lange verdrängt, weggeschoben und ignoriert. Mitte 2014 aber wurde der Wunsch (die Notwendigkeit? Der Drang? Der Leidensdruck?) zu stark. Viele kleine Tröpfchen, und am CSD dann endlich der letzte kleine Tropfen, der zuviel war. Es begann ein Outing-Marathon bei Freunden, Bekannten, Verwandten. Und dann mit viel Zeit für die einzelnen Schritte begann ich zu laufen. Abbinden, Therapiestart, Kündigung beim alten Arbeitgeber, Planung der weiteren medizinischen Schritte. Und von Schritt zu Schritt wurde ich mutiger, verschwand die Angst, wurde der Mann stärker und sichtbarer. 

Und heute steht er mit freiem Oberkörper vor dem Spiegel, kann sich selbst in die Augen sehen und ist glücklich ... 

hätte man mir das vor viereinhalb Jahren gesagt, hätte ich vermutlich nur traurig geguckt ... vielleicht heimlich geweint ... und gesagt, dass eh alles sinnlos ist ... 

Zum Glück ändern sich die Zeiten ;-)