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Ausgewählter Beitrag

Overload Meltdown Shutdown

Zum Thema "Overflow" schreibe ich hier im Blog selten. Es ist ein zentrales Thema in meinem Leben. Aber mir ist bewusst, dass ich das anderen sehr schwer vermitteln kann. Es hat auch nichts mit der Trans*Identität zu tun und gehört nicht wirklich hierher. Es ist jedoch ein Teil von mir. Und ich finde es wichtig, anderen Betroffenen zu zeigen "Du bist nicht allein" und Außenstehenden zu zeigen "so fühlt es sich in dem Moment an". Heute habe ich einen Input hierzu erhalten, der für mich sehr bereichernd war. Möchte das gerne mit Euch teilen.


Vorab: ich selbst pfeif auf Diagnosen. Ja, sie sind hilfreich, um Dinge zu verstehen. Um Menschen zu helfen. Es macht Verhaltensweisen und Reaktionen verständlicher. Außerdem fühlen Menschen sich gut, wenn sie nicht sagen "ich bin anders" sondern "ich bin Borderliner" - "ich bin Autist" - "ich bin hochsensibel" - "ich bin ADHSler". Mit einer solchen Diagnose ist man nicht mehr alleine, man hat eine Begründung, muss sich nicht rechtfertigen, und irgendwie ist das dann ok. Es erleichtert den Alltag, weil man anderen es leichter erklären kann. Und weil man Hilfen von außen bekommen kann. 

Ich habe viele Jahre versucht, mich selbst zu begreifen, indem ich mich irgendwo einordnen konnte. Hat nie geklappt. Seit ich aufgehörte, mich einzuordnen, bin ich endlich zufrieden. Auch, wenn diese neue Freiheit sich erst einmal seltsam anfühlt.

Wünsche mir auch oft, ich könnte mein Verhalten einfach erklären. Aber inzwischen habe ich es aufgegeben. Mir ist egal, warum ich bin wie ich bin. Und mir ist egal, ob ich eine, zehn, zwanzig oder gar keine F-Diagnosen habe. Ich habe einen guten Job, habe funktionierende Beziehungen und Freundschaften, komme im Alltag klar, mein Leben ist gesichert und funktioniert und ich mag es (meistens jedenfalls). 

Aber: Ich bin in vielen Punkten anders, und ich habe gelernt, das einfach so hinzunehmen. Mich deswegen nicht zu verachten. Nicht ständig anderen gefallen zu wollen. Eine Balance zu finden aus "ich kümmere mich um mich selbst" und "ich passe mich dem Leben um mich herum irgendwie an". Führt dazu, dass ich manchmal seltsame Dinge sage oder tue, die andere erst einmal nicht begreifen und irritierend finden. Aber solange ich damit niemanden verletze, ist mir das relativ egal. Sollen sie halt doof gucken, wenn ich das Restaurant einfach verlasse und zahle, obwohl ich noch nicht mal angefangen habe mit Essen. Und wenn ich merke, dass ich scheinbar etwas völlig Unpassendes gesagt habe, einfach weil ich es in dem Moment völlig rational und sinnvoll fand, der Gegenüber aber scheinbar wenig angetan war von meiner Ehrlichkeit, dann entschuldige ich mich aufrichtig. 

Ob das Gefühl anders zu sein daher kommt, dass ich Trans bin oder Borderline-Anteile in mir trage oder ob ich hochsensibel bin oder ADHS habe oder gar autistische Anteile (oder etwas spiritueller gesehen wurde mir auch schon gesagt, ich sei indigo) - who cares! Wichtig ist eine Diagnose nur dann, wenn ich etwas will und die Kasse dafür eine Begründung braucht, zB für Therapiestunden oder Operation.

Von Begriffen habe ich mich schon lange gelöst. Wichtig ist mir: was kann ich tun, um dieses oder jenes Symptom zu lindern. Wenn ein starker Gegenreiz hilft, die Reizüberflutung zu hemmen, ist mir völlig egal, ob das eine Dysphorie aus dem Borderline-Bereich ist oder gerade mal ein Overload / Meltdown aus dem Autismus oder ein Panikanfall aufgrund von Sozialphobie. Wichtig ist in dem Moment nur: wie kann ich vorbeugen, was kann ich dagegen tun, wie komme ich da heil wieder raus. Wie kann ich dafür sorgen, dass sowohl ich als auch die Umwelt möglichst wenig Schaden nehmen?

Ein paarmal habe ich hier schon davon geschrieben: 

>Willkommen in meinem Hirn< - hier beschreibe ich, wie es sich für mich gelegentlich anfühlt, in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein. Reizüberflutung pur. 

>Hier< ein paar allgemeine Gedanken zu diesen intensiven Wahrnehmungen unter dem Begriff "Hochsensibilität". Und die Hoffnung, dass es mit Testosteron besser wird. Was ich sagen kann: ja, erstaunlicherweise hilft Testo mir dabei SEHR gut. Vielleicht führt Testo dazu, dass ich fokussierter werde (unter Östrogen fiel mir Multitasking leichter, jetzt ist es schwerer. Aber dafür leide ich auch nicht mehr so oft unter Reizüberflutung). Vielleicht liegt es daran, dass ich mich stimmiger in mir selbst fühle. Who cares, ich bin weder Psychologe noch Mediziner, und selbst die wussten damals keinen Rat, also was soll´s ;-)

>Im Museum< zeigte sich wieder einmal, wie ich auf die Reize um mich herum reagiere. Vielleicht konnte ich mit diesem Beitrag ein paar Menschen zeigen, wie es sich anfühlt, von Außeneindrücken überwältigt zu werden. Was mich freut: früher wäre ich in einer solchen Situation ausgerastet und hätte überreagiert. Heute kann ich lässig damit umgehen und weiß, was ich tun muss. Niemand außer meinem Partner und mir hat gemerkt, dass irgend etwas nicht stimmt, völlig souverän habe ich das gemeistert :-)

Die >Arztpraxis< ist auch ein Ort, an dem es einfach zuviel wird mit Reizen. Aber nicht nur mit sensorischen Reizen, sondern auch die Emotionen werden schnell zu heftig. Da MUSS man sich abschotten, wenn man unter diesem Phänomen leidet, egal wie es heißt und warum es so ist. Hauptsache, man weiß sich dagegen zu helfen ;-)

Vor etwa 10 Jahren suchte ich Hilfe, weil ich nicht damit klarkam, wenn die Reize um mich herum zu viel wurden. In einem der obigen Beiträge habe ich ja beschrieben, wie die Ärzte das ignorierten und ich mich recht alleine fühlte. Inzwischen eigentlich überhaupt kein Thema mehr, weil ich meinen eigenen Weg gehe. 

Aber heute wurde mir das Thema zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder bewusst. Nämlich als wir in der Fortbildung zum Thema Autismus in einen Nebensatz davon hörten, wie die Reize zuviel werden. Wie gesagt, ein Nebensatz. Auf der Folie stand das Wort "Overload". Ich dachte mir "hey, das klingt wie Overflow, was ich immer verwende. Es geht um zuviele Reize. Ob es das ist, was ich manchmal erlebe?"

Habe mal eine kleine Auszeit genommen während des Vortrages und bin in Google verschwunden. Habe daheim dann mehr dazu gelesen. Und stelle fest, dass ich heute zum ersten Mal eine Beschreibung für dieses Gefühl gelesen habe, welche meinem Empfinden 1:1 entspricht. Hochsensibilität trifft irgendwie auch zu, aber diesen anschließenden "Wutausbruch" (der nichts mit Wut zu tun hat, auch wenn es für Außenstehende so aussieht) konnte ich mir nie erklären.

Auf >Ellasblog< ist das wunderschön erklärt. Ich denke, da kann ein Außenstehender es wirklich gut begreifen. 

Auf >Innerwelt< ist es aus Sicht einer Erwachsenen sehr schön beschrieben. Ich denke, das kann man gut nachvollziehen. Früher kam es bei mir oft zum Meltdown / Shutdown (eines oder beides, je nach Situation), inzwischen habe ich gelernt, einen Overload zu verhindern, indem ich mich vor äußeren Reizen schütze. Und wenn es trotzdem dazu kommt, habe ich idR Hilfsmittel, wie ich auf gesellschaftskonforme Weise damit umgehen kann ohne mir oder anderen zu schaden. 

In einem >sehr schönen Beitrag< schreibt die Autorin über den Unterschied eines "Meltdowns" gegenüber einem "Wutanfall". Lesenswert und nachvollziehbar.

>Dieses Video< ist unglaublich gut gemacht. Es versucht zu zeigen, wie ein solcher Overflow sich für den Betroffenen anfühlt. Es zeigt auch, dass die Umwelt eigentlich gar nichts dafür kann, denn es sind alltägliche Dinge, die aber plötzlich in der Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt und nicht mehr ausgeblendet werden. Plötzlich bricht die Welt über dem Betroffenen zusammen, und um nicht kaputtzugehen bricht er den Kontakt abrupt komplett ab, verliert sich völlig in sich selbst. Eine sehr, sehr schöne Darstellung. 

Was ich dabei aber interessant finde: entweder, ich kenne enorm viele "kranke" Menschen (ich hasse dieses Wort. Denn nur, weil man nicht an diese laute, hektische Gesellschaft angepasst ist, ist man nicht krank. Ich empfinde das Abgestumpftsein gegen all die Reize als wesentlich krankheitswertiger. Aber das ist ein anderes Thema). Oder aber, die meisten Menschen tragen Anzeichen vieler verschiedener Krankheiten in sich. 

Ist diese Gesellschaft überhaupt gesund? Ich halte es mit Ambrose Bierce, der meinte, dass es so viele Krankheiten gäbe, dass es keine gesunden Menschen mehr gäbe. 

Wichtig finde ich: den Gegenüber zu respektieren. Auch, wenn er manchmal komisch ist. Woher soll ich wissen, was ihn gerade plagt? Er hat seine Gründe für das, was er tut. Ob er jetzt gerade mal austickt, ob er Drogen nimmt, ob er schlechte Laune hat, ob er sich selbst verletzt, ob er seltsame Verhaltensweisen an den Tag legt, ob er komische Macken pflegt, ob er Tics hat oder irgendwelche Zwänge, oder ob er notorisch unpünktlich ist oder ein Langschläfer oder lieber weiße Nahrungsmittel zu sich nimmt und komplett auf gelbe Speisen verzichtet ... kann mir alles egal sein, Mensch ist Mensch.

Ich finde es schön, wie verschieden wir sind. Und wenn man lernt, den anderen anzunehmen, wie er ist, dann begreift man irgendwann, dass man selbst okay ist, auch wenn man eigentlich ganz anders ist. Denn eigentlich ist jeder Mensch anders - er muss es nur zulassen statt sich immer nur anzupassen und dabei selbst zu verleugnen. Einen Menschen kennenzulernen ist ein bisschen wie die Reise zu einem fremden Planeten. 

Oder gibt es hier irgendeinen Leser, der von sich sagen würde "also, ICH bin normal"? 

Falls ja: hey, Du bist der erste, den ich kenne. Würde mich über einen Austausch via Mail / Kontaktformular freuen. Ich habe nämlich noch keine in allen Punkten des Lebens "normalen" Menschen kennengelernt und wüsste gerne, wie sich das anfühlt ;-)

2heartedman 09.02.2017, 20.34

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von Dominik

Danke Dir fuer die positive Rueckmeldung. Das kommt mir in der momentanen Beziehungs-schieflage als positives Gegengewicht grade sehr entgegen, den Glauben an mich nicht zu verlieren.
Ganz wuerde auch ich ungern in der Einheitssuppe untergehen.
Mit meinen etwas schrulligen Kleidungsangewohnheiten wird das auch nie passieren.
Ich habe halt immer irgend was selbstgemachtes, oder was an, das ich selbst designed habe, und bin an diesem Stil dann halt doch erkennbar.
Sei es nur, weil ich eigentlich immer irgend was an mir habe, das orange ist.

vom 09.03.2017, 00.17
1. von Dominik

Will man denn Normal sein? Das wuerde fuer mich heissen, aus einem Einheitsbrei geformt sein, und als nicht unterscheidbarvon all den anderen Normalen durchs Leben zu gehen.

In einem Audiobuch sagte der zehnte Doctor mal " I am many things, but Neurotypical, I am not!"
Danach halte ich mich.
Es ist gut, dass eigentlich jedes Individuum etwas von dieser Norm abweicht, und erst dadurch den Status Individuum erlangt.


vom 08.03.2017, 17.53
Antwort von 2heartedman:

Manchen wollen unbedingt normal sein. Ich wäre gerne unauffällig. Aber normal? Nein, normal nicht, das klingt langweilig ;-) 

https://www.redbubble.com/de/people/suburbia/works/14285214-normal-people-scare-me

Ich finde auch, dass die Abweichungen den Menschen erst interessant machen, zu einer Persönlichkeit, wie Du sagst einem Individuum. Menschen, die so absolut glattgebürstet der Norm entsprechen, kann ich mir optisch nicht einprägen und gehen auch charakterlich total an mir vorbei, die nehm ich gar nicht richtig wahr, weil sie total verschwimmen ... 

finde es gut, dass Du Du selbst bist! :-)