two hearted man
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Kurzgeschichte - Nicole und Nicolas

Ich habe eine ganz tolle Brieffreundin, kenne sie seit rund 20 Jahren. Sie hat mich vom ersten Tag meines Outings an respektiert und schreibt die Briefe seitdem an Sascha, spricht von mir als ihrem "liebsten Brieffreund", sie ist manchmal auch neugierig. Ihre Neugier gefällt mir, denn sie ist aufgeschlossen und direkt, aber niemals aufdringlich oder indiskret. Letztens meinte sie im Brief "ich kann mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt im falschen Körper". Es ist schwer zu erklären. Und weil ich ein Schreiberling bin, habe ich es mit einer Kurzgeschichte versucht.


Diese Geschichte soll einer Bio-Frau zeigen, wie es sich anfühlt, wenn sie im Körper eines Mannes stecken würde. Quasi eine Transfrau. Habe auch überlegt, die Geschichte eines Transmannes zu schreiben. Aber das ist nicht leicht, denn das wäre meine Geschichte, das würde vermutlich ausufern und fiele mir sehr schwer. 

Natürlich ist jeder Mensch anders. Es gibt auch lesbische Transfrauen. Transfrauen, die lieber Jeans tragen und Schlabbershirts statt Röcke. Es gibt Transmänner, die ihre langen Haare lieben und gerne weiche Stoffe tragen. Es gibt schwule Transmänner. Deswegen gibt es so viele individuelle Geschichten, wie es Menschen gibt. 

Aber diese Geschichte ist auf Nicole zugeschnitten. Wenn Du eine Frau bist, ersetze Nicole bitte durch Deinen eigenen Namen und Nicolas durch einen männlichen ;-)

Ich hoffe, dass die Geschichte ein bisschen hilft, den Alltag eines ungeouteten Trans*menschen nachzuvollziehen ... 

**************************

Der Wecker klingelt. Am liebsten möchtest Du weiterschlafen, es ist grade so gemütlich im Bett. Außerdem war das wieder einer von diesen herrlichen Träumen. Du warst wieder Du selbst. Nicole. Bist mit Freundinnen gemütlich im Café gesessen, ihr habt geratscht, gekichert, den Männern hinterhergesehen, über Deine Lieblingsstars geredet, und als Euer Lieblingssong im Radio kam, habt Ihr mitgesungen, die anderen Gäste haben schon komisch geguckt, aber sie fanden es auch lustig. Du hattest einen großen Eisbecher mit bunten Streuseln, eben ein richtig toller Weiberabend. Deine langen blonden Haare zum Pferdeschwanz, dazu Dein rosa Lieblingspulli, der sich so kuschlig an Deine Haut schmiegt und diese niedlichen Ohrringe. Und der neue Push-Up machte ein tolles Dekolletee, die Jungs sehen Dir hinterher, und der eine hat beim Verlassen des Cafés wie zufällig Deine Schulter gestreift und Dir verschmitzt zugezwinkert. 

Aber die Realität ruft, also heißt es aufstehen und Dich fertig machen für die Arbeit. Noch ganz in Deinem Traum versunken, erschrickst Du für einen Moment. Ach ja, stimmt, keine langen blonden Haare, kein Lipgloss. Sondern harte Stoppeln, ein kantiges Kinn und Geheimratsecken. Du magst es gar nicht, dieses Gesicht im Spiegel zu sehen. Du kennst es, aber wirklich daran gewöhnt hast Du Dich nie. Nicole mit Bart, das ist falsch. Aber nur für Dich. Denn die anderen sehen Nicolas, und Nicolas ist eben ein Mann. Du greifst zum Rasierer. 

Immerhin die Haare sind lang, so wie Du es wünscht. Aber beim letzten Bewerbungsgespräch bist Du dafür schräg angesehen worden. Männer mit langen Haaren, das ist zwar nichts Besonderes, aber trotzdem ist es nicht überall gerne gesehen. Und Deine Familie zieht Dich auch auf deswegen, ständig kommen spitze Kommentare wie "kurz würde Dir bestimmt gut stehen" oder "mensch, probier es halt wenigstens mal". Du bist es leid, ständig darauf angesprochen zu werden, und Du überlegst schon länger, sie endlich abzuschneiden. Aber dann ist Dein Spiegelbild noch schrecklicher anzusehen, willst Du das wirklich? Was ist Dir wichtiger - Dein Spiegelbild oder endlich Ruhe zu haben vor den ständigen blöden Kommentaren jeden Tag? 

Manchmal kommen sogar unbedachte Spruche wie "klar, dass Du so keine Frau findest". Das ist so verletztend! Du bist doch kein schlechter Mensch, nur weil Du als Mann lange Haare hast! Außerdem, Du BIST kein Mann! Und Du stehst nicht auf Frauen, Du bist eine heterosexuelle Frau und stehst auf Männer! Aber wenn Du einen Mann anflirtest, hält der Dich für schwul und wendet sich angeekelt ab. Manchmal fragst Du Dich wirklich, ob Du jemals den Menschen finden wirst, der an Deiner Seite leben will, auch wenn Nicole einen Bart hat und zwischen den Beinen ... wer will schon eine "Frau" mit Bart und Penis? 

Immer wieder diese Gedanken, Du würdest sie gerne einfach aus dem Kopf rauskriegen, aber sie sind jeden Tag da, sie begleiten Dich, egal wo Du hingehst. Manchmal fragst Du Dich, ob auf Deinem Grabstein wirklich stehen wird "Nicolas, geliebter Vater, Sohn und Ehemann". Dich gruselt es, wenn Du Dir das vorstellst! Als läge da eines Tages ein Fremder. Als hätte niemand Dich je wirklich gekannt. Als wärst Du unsichtbar ... 

Du stehst an der Bushaltestelle, der Bus ist rappelvoll. Also setzt Du Dich gedankenverloren auf den einzig freien Platz, neben ein kleines Mädchen. Was für ein süßer Rucksack, der gefällt Dir, Du möchtest sie darauf ansprechen, aber im letzten Moment fällt Dir ein, dass Du das besser nicht tun solltest. Wie sieht das aus, wenn ein wildfremder Mann dem kleinen Mädchen erzählt, wie süß sein Schulrucksack ist? Also richtest Du den Blick stur geradeaus. 

Eine ältere Dame stolpert, rempelt Dich an, hält sich an Dir fest und stürzt fast. Sie sagt "verzeihung, junge Frau, der Fahrer hat so heftig gebremst. Danke, dass Sie mich aufgefangen haben". Dein Herz hüpft, sie hat Nicole in Dir erkannt, Du sagst strahlend "schon gut", und sie erschrickt, als sie Deine tiefe Stimme hört. Wird rot. Sagt "oh, entschuldigen, ich meine, junger Herr. Entschuldigung, die Haare, ich dachte, äh ..." So, wie Du Dich gerade gefreut hast, musst Du jetzt seufzen. Jaaaa, die Haare, sie hielt Dich für Nicole, aber Deine Stimme verrät allen, dass Du Nicolas bist. Wie konntest Du nur so dumm sein und glauben, sie hätte mit Nicole gesprochen?

Versehentlich steigst Du an der falschen Haltestelle aus, weil Du in Gedanken warst. Musst Du jetzt nach links oder rechts weiterlaufen? Freundlich winkst Du einer Frau, gehst zielstrebig auf sie zu, lächelst und fragst sie nach dem Weg. Sie dreht sich weg und geht weiter. Vermutlich hielt sie Dein freundliches Verhalten mal wieder für eine billige Anmache, wäre nicht das erste Mal. Ganz schön kompliziert, ... 

Endlich hast Du auf Deinen Weg gefunden. Dein Arbeitskollege kommt Dir entgegen, boxt Dich mit der Faust in die Seite, meint "na, wie stehts, alles fit im Schritt? Heute Filmabend, biste dabei?" Innerlich seufzt Du. Ja, Du bist dabei, aber das wird wieder so ein Actionkracher sein. Ist ja nicht so, dass Du keine Action magst, aber Du guckst auch gerne was Romantisches oder ´nen lustigen Disney, aber das musst Du alleine machen, denn als Du mal angedeutet hast, dass Du bei den Treffen am Donnerstag Abend gerne mal "die Eiskönigin" sehen würdest, haben Dich alle schräg angesehen, als wüssten sie nicht, was sie davon halten sollen. Dann haben sie gelacht, Dir auf die Schulter geklopft und waren sich einig, dass das ein toller Scherz war. Also gut, wie jeden Donnerstag, Du sagst wieder zu. 

Auf Arbeit das Übliche: Du magst Deine Kollegen, die Männer und auch die Frauen. Warum auch nicht. Je nachdem, wie Du Dich fühlst, wechselst Du. An manchen Tagen stehst Du bei den Frauen, fühlst Dich wohl als eine von ihnen. Aber Du spürst, dass sie in Deiner Gegenwart nicht so locker sind, dass sie manche Themen weglassen, weil Du ein "Eindringling" bist, den ihre Gespräche über Ehemänner, Make-Up, den heißen Typen aus der anderen Abteilung Dich nichts angehen.

Dafür kannst Du mit ihnen super über Gefühle reden, sie mögen es, dass Du so offen bist, so emotional, und mit Ihnen kannst Du dann auch mal Deine weichere Seite zeigen. Manchmal ziehen sie Dich zwar ein wenig damit auf, aber das ist es Dir wert. Manchmal, für ein paar kurze Momente, kannst Du vergessen, dass Du Nicolas bist, und dann fühlst Du Dich ganz wie Nicole. Aber Du darfst auf keinen Fall zu nachlässig werden! Letztens, als Du völlig vergessen hast, wer Du bist, da hast Du Dich eingemischt, als sie gerade über trocknenden Nagellack gesprochen haben. Du hattest einen ganz tollen Tip, aber als Du das ausgesprochen hast, sahen sie Dich völlig irritiert an. Ein Mann will ihnen Tips geben über Nagellack? Du hast Dich schnell gerettet und gesagt "naja, äh, das habe ich bei meiner Schwester immer gesehen", erleichtert haben die Frauen gelacht und sich dann wieder anderen Dingen zugewandt. Seitdem bist Du immer etwas angespannt und darauf bedacht, Dich bloß nicht mehr zu verplappern ... 

An anderen Tagen stehst Du bei den Männern. Du fühlst Dich wie ein Alien, aber sie behandeln Dich als einen von ihren. Knuffen Dich in die Seite, erzählen ihre Zoten, reißen ´nen Spruch über "die Alte daheim". Die Gespräche über das letzte Fußballspiel des Vereins interessieren Dich absolut nicht, und Dir ist auch egal, welche Schauspielerin so heiß ist, dass Dein Kollege sie gerne mal vernaschen würde, der Gedanke widert Dich an, als Du Dir das vorstellst. Überhaupt, es klingt, als müsse ständig einer dem anderen beweisen, wie toll er ist, und da willst Du Dich nicht beteiligen. Aber wenn Du das nicht tust, stehst Du wieder mal am Rand. Also gräbst Du auch irgendwelche Geschichten aus. Und schämst Dich, dass Du sowas überhaupt erzählst.

Auch hier wieder: willst Du lügen, Dich verstellen, aber wenigstens von den Männern behandelt werden, als würdest Du dazugehören? Oder möchtest Du lieber so sein, wie Du gerne wärst? Aber wenn Du so bist, wie Du Dich fühlst - werden die Männer Dich als "Schwuchtel" mobben und die Frauen immer noch als Mann sehen, der nicht zu ihnen gehört. Gerade, wenn die Kollegen in der Pause zusammenstehen, fühlst Du Dich verdammt einsam ...

und dann fangen die Männer auch noch an, über die Frauen herzuziehen. Dass man die eh nicht verstehen kann. Wie albern das ist, wenn die so lange im Bad stehen. Dass sie endlich mal sagen sollen, was sie meinen, statt immer nur anzudeuten und dann stinksauer zu sein. Wie soll man denn als Kerl wissen, was die Weiber wollen, wenn sie es nicht sagen und nicht mal selbst wissen? Du willst schreien "ich BIN eine Frau, und ich will nicht, dass ihr so über mich redet! Und wir sind überhaupt nicht schwer zu verstehen! Ihr dürft halt nicht so grob sein, müsst uns auch mal zuhören, müsst auch mal Verständnis haben, und nicht einfach nur über uns drübertrampeln! Mensch, warum seid Ihr Kerls nur so plump?" Der Kollege stößt Dir wieder in die Seite: "Und, Nicolas, was sagst Du?" - "ach, äh, ja, versteh einer die Weiber". Du läufst knallrot an. Hast Du das wirklich gesagt? Wie von selbst kamen die Worte über die Lippen, aber die Kollegen nicken bestätigend. Immerhin hast Du das richtige gesagt. Aber es fühlt sich falsch an ... 

Während die Frauen fröhlich kichern und die Männer von ihren Erfolgen erzählen, schweifen die Gedanken in der Kaffeepause ständig ab. Wie Du früher die weichen Klamotten Deiner Schwester aus dem Schrank genommen hast. Als Deine Eltern das gesehen haben, hast Du erstmal tagelang Hausarrest bekommen. Durftest in der Schule beim Direktor antanzen, als Du ständig gesagt hast "ich heiße Nicole". Das war Dir so peinlich, denn die Mitschüler haben das ja auch mitbekommen, seitdem wurdest Du ziemlich oft ausgelacht. Eine zeitlang hast Du dann versucht, Dich anzupassen, hast dich in den Fußballverein eingetragen, Dir die Haare abgeschnitten, extra ´nen Pulli mit dem neuen Actioncomichelden angezogen, und wenn Dich einer ausgelacht hat, hast Du ihm eine Abreibung verpasst in der Schulpause. Aber Du hast Dich ziemlich mies gefühlt, denn Fußball, Actionheld, sich in der Pause raufen, das bist nicht Du! Wenigstens wurdest Du nicht mehr gemobbt. Und je älter Du wurdest, desto mehr hast Du versucht, eine Mischung zu finden aus dem, was Du bist und aus dem, was die anderen erwarten ... 

Kaffeepause ist vorbei, zurück zum Job. Gleich ist eine Dienstbesprechung, ein wichtiger Kunde. Dein Chef erwartet heute mal, dass Du förmlich auftrittst. Mit Krawatte und Anzug! Krawatte! Die anderen Frauen dürfen Blusen tragen aus weichem Stoff, der angenehm auf der Haut liegt, und Du musst Dir den Hals abschnüren. Während der Besprechung hast Du das Gefühl, dass die Krawatte immer enger wird, Du kriegst kaum noch Luft, Du willst dieses Ding nicht tragen, aber der Job ist einfach wichtiger, egal wie unbequem so ein Ding ist!

Endlich geschafft, Du machst Dich auf dem Heimweg. Schnell noch in den Laden, hast Lust auf ein bisschen Shopping und Stöbern. Du brauchst eine neue Umhängetasche. Du gehst durch die Parfumabteilung, da spritzt eine Mitarbeiterin schon irgendsoeinen Herrenduft auf Deine Klamotten, das findest Du total eklig. Du magst eher zitrus, fruchtig, hell. Statt dessen ist das so ein holziges, herbes Zeug! Du kannst schon den Geruch von Aftershave nicht ausstehen, aber welche Wahl hast du schon nach dem Rasieren als dieses Zeug zu verwenden, wenn Du Deine Haut pflegen willst?

Das kriegst Du sicher nicht wieder los die nächsten Stunden. Auf dem Weg zu den Taschen kommst du an der Wäscheabteilung für Damen vorbei. Siehst einen roten BH, weicher Stoff, Spitze, bleibst kurz stehen, fährst mit dem Finger über das Material, das fühlt sich toll an, wie sich das wohl auf der Haut anfühlt? Als Du siehst, wie die Frau am Wühltisch daneben Dich anstarrt, lässt Du den BH sofort los. Du könntest sagen, das ist ein Geschenk für ´ne Freundin, trotzdem läufst Du knallrot an und fühlst Dich ertappt. 

Endlich bist Du in der Abteilung für Taschen. Okay, ´ne absolute Herrentasche willst Du nicht, aber zu weiblich darf es auch nicht sein. Irgendein Kompromiss. Du gehst zu den Damentaschen, da gibt es doch bestimmt was Neutrales, das nicht ganz so auffällig ist. Da kommt auch schon die Verkäuferin. Sie kommt mit Dir ins Gespräch, und immer wieder will sie Dich in die Herrenabteilung ziehen. Und jedes Mal, wenn Du nach einer Damentasche greifst, sagt sie "ach, nein, das ist zu bunt" oder "neinnein, das ist eine Damentasche, aber sehen Sie mal hier, feinstes Leder, schlichte Optik, hier passt sogar der Laptop rein, das ist optimal für Besprechungen, sogar der Aktenordner findet Platz, robust, belastbar", und es nervt Dich immer mehr. Kann die Dich nicht in Ruhe lassen? Du kannst doch nicht sagen, dass Du eine Tasche willst, die weiblicher aussieht und nicht so klobig ist sondern weicher, leichter, nicht praktisch sondern hübsch. Einkaufen macht echt keinen Spaß, wenn die Verkäufer Dich ständig falsch beraten! Du gehst nach Hause, ohne Tasche. Und hoffst, dass Du nächstes Mal beim Einkaufen nicht angesprochen wirst. Oder vielleicht sagst Du ja dann, dass die Tasche für eine Freundin ist. Das passiert Dir ständig. Ob Du Klamotten kaufst, Parfum, Körperpflege, Taschen, Bücher, die Verkäufer empfehlen Dir ständig Zeug, das Du absolut nicht haben willst! Du hoffst jedes Mal, dass dich keiner anspricht, ... 

Endlich zu Hause. Du telefonierst noch flink mit Deiner Familie. Und wieder die üblichen blöden Sprüche: "Na, hast Du endlich jemanden kennengelernt? Wann dürfen wir denn mit Enkeln rechnen? Und diese nette Kollegin, von der Du gestern erzählt hast, wär die nicht was für Dich?" Herrgott nochmal! Wann begreifen die endlich, dass Du auf Männer stehst! Du bist eine FRAU! Können die Dich nicht endlich in Ruhe lassen? Wie werden sie reagieren, wenn Du eines Tages mit einem Freund ankommst?

Da ist dieser Kollege, der zwinkert Dir manchmal zu, Du findest ihn total süß, und er hat Dir schon gesagt, wie sympathisch er Dein Lächeln findet und dass er gerne mal mit Dir ´nen Kaffee trinken würde nach der Arbeit. Sollst Du darauf eingehen? Dann werden die Kollegen und Deine Familie erfahren, dass Du auf Männer stehst, und Du hast Angst, dass Du dann noch mehr unter Beschuss stehst und die Leute noch mehr lästern als sowieso schon. Aber ein Leben lang allein bleiben möchtest Du auch nicht. Wie wird dieser Typ reagieren, wenn er mit Dir zusammen ist und erfährt, dass Du eigentlich eine Frau bist, wird er Dich dann auslachen? Oder mag er Dich vielleicht gerade deswegen, weil er die Frau in Dir mag? Das wirst Du nur erfahren, wenn Du ihn ansprichst, aber Du hast ziemlich Angst, Dich zu outen ... 

Statt Dich mit diesem heißen Typen zu treffen, gehst Du also am Abend also wieder zu den Kumpels (wie das schon klingt, "Kumpel". Du hast viel lieber Freundinnen, aber das ist nicht so leicht). Die Jungs warten schon auf Dich, Bierflasche in der Hand, klopfen Dir auf die Schulter "hey, Bro, cool dass Du da bist", kurzes Nicken (Du würdest sie lieber umarmen zur Begrüßung, aber das machen Männer nicht. Nicolas macht das nicht. Nicole schon, aber woher sollen sie wissen, dass Du Nicole bist). 

Und dann zum Abschied fällt dieser schreckliche Satz: "So, nächstes Mal gucken wir bei Dir!" Oh Gott! Die wollen zu Dir? In die Wohnung? Was sollst Du sagen? Du überlegst, wie lange es dauert, um Deine Wohnung entsprechend vorzubereiten. Wie werden sie reagieren, wenn sie an Deiner Wand das Poster von Deinem Lieblingsfilmstar sehen, der sich gerade mit nacktem Oberkörper vor der Kamera räkelt? Sie werden Deine Filmsammlung ansehen und lauter Musicals und Disney und romantische Komödien sehen! Falls einer aufs Bad muss, solltest Du besser das Make-Up verstecken, das Du dort liegen hast (fürs Wochenende, wenn Du alleine bist und Dich endlich mal fühlen willst wie Du selbst). Statt praktischer Einrichtung in einer typischen Junggesellenbude stehen überall hübsche Dekosachen, hier ein wenig Nippes, dort dazu passend ein hübsches Bild, alles sauber aufgeräumt. So, als würde Deine Mutter täglich kommen und aufräumen. Und Du solltest vielleicht vorher einkaufen gehen, denn die wollen sicher ein Bier und Chips, Du hast aber nur Saft, Tee, Schokolade auf Vorrat. 

Als Du Dich auf den Heimweg machst, ist es schon dunkel. Du stellst fest, dass die Frauen häufig die Straßenseite wechseln, wenn sie Dich sehen. Scheinbar ist ein dunkelhaariger kräftiger Typ mit 1,90 nicht die Person, der sie nachts alleine über den Weg laufen wollen. Aber das bist Du inzwischen gewohnt und hast gelernt, das nicht mehr persönlich zu nehmen. 

Zu Hause angekommen gehst Du ins Bad. Weg mit den Klamotten, rein ins kuschlige Bett. Zu den Stofftieren, dem weichen Kissen. Ziehst Deine Boxershort und Dein Shirt an, bist ein bisschen wehmütig. Letztens im Laden hattest Du so einen kuschligen Schlafanzug gesehen. Eiskönigin, mit Olaf dem Schneemann, ein pastellfarbener Fleece-Stoff, total warm und weich, Du hast ihn kurz an Deine Wange gedrückt und ... naja, wie gesagt: als Mann mit 1,90 ist es schwer, einen Disney-Schlafanzug aus Fleece zu bekommen. Also eben Boxershorts und Shirt. Du hast irgendwann resigniert, Du weißt, dass Du nicht die Klamotten tragen kannst, die Du willst. Du weißt, dass die Verkäufer Dich falsch beraten. Du weißt, dass Dein Chef eine Krawatte von Dir erwartet. Dass Deine Eltern erwarten, dass Du eines Tages die passende Schwiegertochter anschleppst. Du weißt, dass Du Dich täglich rasieren musst. 

Wenn Du morgen aufstehst ... wirst Du den Leuten erzählen, wer Du wirklich bist? Würden sie Dir glauben? Würden sie es verstehen? Würden sie Dich auslachen und Dich mobben, oder würden sie Dich unterstützen? Du kannst es nicht nur testen und es versuchen. Wenn Du es sagst, ist es raus, und dann ist es zu spät ... gehst Du das Risiko ein? Oder lebst Du weiter wie bisher, als Alien zwischen den Männern und Frauen, aber dafür mit einem erfolgreichen Job, der Unterstützung Deiner Familie, einem tollen Freundeskreis ... oder bist Du bereit, das möglicherweise alles zu riskieren, um endlich die Nicole zu sein? Was ist Dir wichtiger? Wirst Du Dich jemals daran gewöhnen, dass Du aussiehst und behandelt wirst wie Nicolas? WILLST Du Dich eines Tages daran gewöhnen, dass Du Nicolas bist? Bist Du bereit, Dich selbst zu leugnen? Soll auf Deinem Grabstein wirklich stehen "Nicolas, geliebter Sohn, Vater, Ehemann"? ...

2heartedman 04.02.2016, 19.43

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