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Ausgewählter Beitrag

Fettlogik - Frauen sind eben etwas runder

Vor ein paar Tagen erschien das Buch "Fettlogik" von Nadja Hermann. Und als olle Bloggerseele habe ich jetzt natürlich das Bedürfnis, "meine" Fettlogik zu teilen. Bevor ich Nadja schreibe und sie vor tausenden Mails (ich wette, unzählige Leute haben nun das Bedürfnis, sich ihr nach diesem Buch mitzuteilen) nicht mehr ein noch aus weiß, tippe ich das hier. Dann sieht sie sich nicht unter der "muss antworten" - Keule, und ich kann jetzt also trotzdem mal loslegen.

Ich denke, der Beitrag ist interessant für alle, die selbst gerne in solche Logikfallen tappen. Und vermutlich wird sich so mancher wiedererkennen ;-)

So, das hier war der Teaser. Bevor es zum Hauptteil kommt (vorsicht lang) gibt es ein wenig Werbung *jingle*:

>Erzählmirnix<
>Fettlogik der Blog<
>Fettlogik das Buch<


Als Jugendlicher war ich nicht dürr, aber recht schlank. 58 kg bei 1,64 ist ´ne gute Hausnummer. Ich empfand das als schlank genug (zumal ich recht gut durchtrainiert war), fühlte mich top und habe mich nicht um so etwas wie Diäten, Abnehmen oder gesunde Ernährung gekümmert. Gab auch keinen Anlass. Mein vom Schwimmen etwas breitere Kreuz wurde oft erwähnt (da für eine Frau auffällig). Meine Familie kochte abwechslungsreich, ich war immer auf den Beinen. 16 h Tag hatte ich als Jugendlicher, und dabei waren eine Menge Auftritte auf der Bühne und Bandproben, was auch einiges abverlangte. Ansonsten war ich vor allem im Tierheim Hunde ausführen, im Schwimmbad meine Bahnen ziehen, Inlineskaten. 

Wenn ich an meine Jugend und Kindheit denke, sehe ich immer Bewegung. Tretroller, Inlineskater, Rollschuh, Wandern, Joggen, Schwimmen, Gassigehen, Fahrradtouren, Seilspringen, Hula Hoop Reifen, Federball, Indiaca, Volleyball, Softball, Tischtennis. Gelegentlich sogar im Verein, und ständig mit den anderen Peers aus der Nachbarschaft. Auf der Straße warfen wir uns Bälle zu, machten Gummitwist, spielten Räuber und Gendarm und Verstecken und haufenweise Bewegungsspiele. Ich kletterte auf Bäume. Ach ja, und ich war auch zeitweise bei den Naturfreunden, wo ich noch mehr wanderte und auch im Matsch wühlte, Gräben aushub, Benjeshecken auftürmte, durch Flüsse stakte. Also, kurz: ein Naturbursche durch und durch ;-)

Ich sagte ständig diesen fiesen Spruch "ich kann essen, was ich will, weil ich eh nie zunehme". Im Nachhinein logisch: wenig Zeit zu essen, aber Kalorienverbrauch nonstop. Da ist ´ne Tafel Schoki genausowenig ein Problem wie eine große Familienpizza. 

Dann kam mein eigener Roller, und das Fahrrad blieb immer öfter stehen. Dann lernte ich meinen Exmann kennen, der hatte ein Auto, da blieb dann auch der Roller immer öfter stehen. Dann kam der PC, und ich saß immer häufiger am Schreibtisch. Dann kam das Studium, und ich trat aus einigen Vereinen und Gruppen aus, saß dafür häufiger nachmittags am Schreibtisch. 

Ab und zu noch mal Fahrrad oder Spaziergang. Für Band, Sportverein oder Schwimmbad hatte ich keine Zeit mehr. Zumal mein Ex eine Couchpotato ist. All die Animes waren nach einem anstrengenden Tag aber auch wirklich verlockender als der Studienort, mit dem ich niemals warm wurde und in dem ich mich niemals heimisch fühlte. Mein Gewicht bewegte sich schrittweise auf die 64 zu, die konnte ich recht lange halten.

Dazu kam, dass mein Körper immer weiblicher wurde. Wenn ich früher wegen meiner Fitness und meines drahtigen Äußeren als Junge durchging, wurde ich immer deutlicher eine junge Frau. Hier ein wenig Hüfte, dort der erste Brustansatz. In der Pubertät des falschen Körpers zu stecken ist wirklich deprimierend! Beim Volleyball hatte ich plötzlich Angst, dass ich den Ball aauf den Brustkorb abkriege, und beim Laufen hüpften die Brüste so eklig auf und ab. Wenn ich meine Tage hatte, ließ ich mir nichts anmerken und leistete umso mehr, fühlte mich aber ziemlich eklig. 

Gefiel mir nicht, aber ich war ja nicht wirklich fett. Und weil ich das Glück habe, dass meine Gewichtszunahme ziemlich proportional ist, fiel das niemandem auf. Ich wurde halt rundlicher. Sowas wie "fetter Hintern" oder "zuviel Bauch" oder "fette Schenkel" blieb mir erspart, insgesamt war es schon recht gut verteilt. Und alle redeten mir ein, dass ich halt "fraulicher" würde, das sei normal, so ein paar Kurven schaden einer jungen Frau nicht. Ich schämte mich. Hatte keine Lust auf Sport, vor allem weil ich ja davon ausging, dass das mein Körper ist, der mich dicker werden ließ, weil es eben ein Frauenkörper war. Ein weiterer Grund, das Frausein zu hassen!

Irgendwann wurde ich immer träger. Und während der Diplomarbeit bestand meine Ernährung aus Schokocookis und Cola und zwei bis drei Tellern Spaghetti mit Pesto. Ich saß fast nur noch am Computer. Denn inzwischen wurde das Internet immer schneller. Lanparties, Zocken, Chatten, Mails. Ich konnte mich im Internet als Mann ausgeben, das fühlte sich toll an. Nebenbei ein paar Nüsschen knabbern, der einzige Sport der Weg von der Toilette zum Computer. Oder das Kofferpacken zwischen Erst- und Zweitwohnsitz. 

Studium beendet, Umzug von meiner ursprünglichen Heimat in die neue Stadt, in der ich jetzt lebe. Ich steckte schon ziemlich tief in der Depression. Die Beziehung lief nicht, wie sie sollte, ich war arbeitslos, musste mit meiner Rolle als Frau irgendwie klarkommen. Mein Exmann hatte immer weniger Lust, etwas zu unternehmen. "Warum soll ich nach XY fahren, das kann ich doch auch am Computer sehen". Oder "wenn wir jetzt am Wochenende xy unternehmen, wer nimmt dann meine Serie für mich auf". Oder "bin aber um x Uhr zum Zocken verabredet". Ständig alleine etwas zu unternehmen hatte ich keine Lust, wozu ist man denn verheiratet?

Ein Orthopäde wies mich darauf hin, dass ich zu schwer sei (bei 64 Kilo). Allerdings war dieser Arzt sozial absolut inkompetent, was mir sogar Kollegen von ihm bestätigen, die sich mit ihm das Ärztehaus teilten und bei denen ich war. Er selbst war deutlich übergewichtig (nicht oberer BMI wie ich damals, sondern  adipös). Trotzdem warf er mir Sachen an den Kopf wie "dass Sie nicht abnehmen zeigt, wie inkonsequent Sie sind. Da ist es kein Wunder, dass Sie arbeitslos sind. Wenn Sie so konsequent eine Arbeit suchen, wie Sie abnehmen, dann wird Sie nie jemand anstellen. Abnehmen ist nur eine Sache der Disziplin". Und er wurde über die Monate hinweg, die ich bei ihm war, selbst immer fetter. 

Von diesem Mann ließ ich mir nichts sagen, er hatte mich tief verletzt. Nicht wegen der Aussage, dass ich zu dick sei. Sondern weil er mir unterstellte, dass ich zu faul und träge zum Arbeiten sei. Ich litt unter meiner Arbeitslosigkeit, und durch familiäre Ereignisse (worauf ich hier nicht näher eingehen werde) war ich in Behandlung gegen Depression. Mir fehlte die Kraft, und manchmal lag ich zu Hause auf dem Bett, starrte die Decke an und hatte nicht einmal die Kraft, meine Position zu wechseln, wenn mir das Bein einschlief oder mir vom Liegen etwas wehtat. Spaghetti, Cookies, Limonade, Schokolade. Aber immerhin war es vegetarisch, das ist gesund oder so.

Das Gewicht pendelte sich bald um die 70 Kilo ein. Meine Fettlogik zu diesem Zeitpunkt: "Frauen haben eben Kurven" und "ich konnte früher essen, was ich will. Das tue ich heute auch noch, also kann es nicht an mir liegen, sondern muss mit meinem Stoffwechsel zu tun haben". Die Leute gaben mir zu verstehen, dass ich nicht dick sei. Da ich eh ständig Schlabberklamotten trug, um meinen weiblichen Körper zu verstecken, fiel eigentlich auch kaum jemandem auf, dass ich schleichend zunahm.

Die Beziehung wurde immer belastender, bis ich mich eines Tages von ihm trennte. Ich liebte ihn sehr, aber wir standen uns beide im Weg: beide ließen wir uns gehen, wurden immer dicker, fanden ständig neue Ausreden um weder Zeit miteinander zu verbringen noch etwas an unserem Leben zu ändern. Mir war klar: es bringt nichts, ständig im Kreis zu rennen, ich muss eine neue Richtung einschlagen. Da ich ihn noch immer liebte, tat es verdammt weh, ihn zu verlassen und nun leiden zu sehen. 

Aber ich erkannte, wie es auch ihm guttat und er sich schrittweise wieder ins Leben wagte. Und auch bei mir ging es Schlag auf Schlag plötzlich immer weiter. Naja, immerhin das Leben entwickelte sich bei mir, die Pfunde aber stiegen weiter. Denn auch mein neuer Partner ist ein Computerfreak. Außerdem, als junges verliebtes Paar verbringt man die Zeit lieber zu zweit daheim als draußen unter Fremden ;-)

Ich fand einen Job, den ich noch immer ausübe, in erster Linie sitzende Tätigkeit am Schreibtisch und Computer. An meiner Disziplin lag es also nicht. Aber ich fuhr nur noch mit den Öffentlichen, Spaziergänge in der Innenstadt zwischen Häusern machen keinen Spaß, und weil der Job sehr belastend ist, habe ich nach der Arbeit keine Lust auf körperliche Betätigung sondern nur noch auf sinnlose Serien oder Daddeln am PC.

Seit 6,5 Jahren bin ich mit meinem Mann zusammen. Fünf Jahre lang steigerte sich mein Gewicht langsam von 70 auf 80. Er wusste zwar von Beginn an, dass ich ein Mann bin, aber das änderte nichts daran, dass er meine Kurven mochte. Er bestätigte mich immer wieder darin, dass ich ihm in meinem Körper gefalle. Dass ich keinen Grund habe abzunehmen. Zumal wir uns ja gesund ernährten: vegetarisch, viel Gemüse und Grünzeug, Bio. 

Ja, auch als Vegetarier kann man Übergewicht haben. Schokolade, süße Brotaufstriche, kalorienreiches Obst, und mmmh wie liebe ich es das ausgebackene Fett mit einem Stück Brotkante aus der Pfanne zu dippen! Schokopudding, Cookies, Kuchen! Käseberge!

Obst ist gesund, Fett ist ja nur ein Löffelchen, einen Pudding darf man sich mal gönnen. Frauen haben Rundungen. Mein Ausschnitt sah toll aus. In unserer Familie sind eh alle etwas kräftiger. Und wegen meiner Unverträglichkeiten auf einige Lebensmittel reagiert mein Körper eh etwas anders. 

Außerdem war ich immer noch recht sportlich, wenn ich mich mit anderen verglich. Zwar nicht mit den sportlichen Freunden, aber mit den anderen Stubenhockern. Ich konnte wandern um die 50 bis 60 Kilometer, und beim Schwimmen war ich noch immer supergut und zog meinen Kilometer in 20 Minuten (wenn ich einmal im Jahr schwimmen ging). Und ich hatte gelernt, dass der menschliche Körper sich etwa alle 7 Jahre verändert, es schien also völlig normal, wenn man viele Jahre lang "alles essen konnte" und auf einmal der Stoffwechsel und der Körper anders reagieren.

Und wenn man so viel gesundes Obst und Gemüse isst, dann kann es ja wohl nicht sein, dass hier ein Löffel Nutella und dort eine Scheibe Käse und da ein paar Stück Kuchen sofort dafür sorgen, dass ich von 58 kg auf 80 hochschnelle. 

Ich fühlte mich verdammt unwohl in meinem Körper. 80 kg, große Brüste, weibliche Hüften. Während ich früher noch oft als junger Mann angesehen wurde, konnte ich damit keinesfalls mehr meine Weiblichkeit verstecken. Außerdem war mir schon klar, dass ich nicht mehr wirklich sportlich war. Aber wenn meine Umwelt mir ständig einredete, dass alles in Ordnung ist? Meine Umwelt sagte "Du bist eine Frau" und sagte "Du bist nicht fett". 

Wenn ich meinen Körper schon hasste, weil er weiblich aussah, dann kam es auf die paar Kilo auch nicht mehr an. Woher soll ich denn wissen, wie sich ein weiblicher Körper anfühlt oder aussehen muss, wenn ich ihn noch nie als mir zugehörig empfunden habe? Ich habe auf meine Umwelt vertraut. 

Manchmal sagte ich "ich will abnehmen". Aber mein Mann erklärte mir, dass ihm mein Körper gefällt. Und Freunde sagten, dass ich doch garantiert nicht dick sei. Wobei ich feststelle: diese Aussage kam vor allem von Leuten in meiner Gewichtsklasse oder darüber. Hätten sie mich als dick bezeichnet, hätten sie wohl auch ihr eigenes Gewicht überdenken müssen, das hätte nicht in deren Weltbild gepasst. 

Meine Jeans hielten nur ein paar Wochen, weil sie danach an den Schenkeln durchgewetzt waren. Ich keuchte beim Treppensteigen. Einfache Sportübungen strengten mich an. Mir war schon klar, dass das nicht gesund ist. Aber Kalorienzählen wollte ich nicht. Keine Lust, mich damit zu befassen, was wieviele Kalorien hat, Essen ist schließlich Genuss, kein Mathewettbewerb! Weight Watchers funktionierte nicht. Wie auch, wenn Nudeln als Sattmacher gelten (= man darf soviel essen, wie man möchte) und mir zu diesem Zeitpunkt ein natürliches Hungergefühl fehlte, sodass ich drei Teller Nudeln aß? Eine Packung mit 250 g war mein Abendessen, oft legte ich noch 50 bis 100 g drauf. Die restlichen Punkte nutzte ich für kiloweise Käse obenauf). 

Meine bis hierher typischen Fehler:
- schneller schlingen, als der Magen "satt" sagen kann
- Kalorien gesunder Lebensmittel unterschätzen
- mit Süßigkeiten trösten
- hier ein Scheibchen, dort ein Stück, da ein Löffelchen
- Kleinigkeiten (Zucker im Kaffee, Praline, Limo, usw)

Und: mich damit abfinden, dass ich als Mann im falschen Körper eh nie zufrieden sein werde. Ob dürr oder fett, Frauenkörper bleibt Frauenkörper. Warum sollte ich einen Körper pflegen, den ich nicht als meinen empfand und den ich verachtete?

End of Story? NOPE!

Im Oktober 2013 ereignete sich etwas in meinem Leben, das mich komplett aus der Bahn warf. Es ging mir hundeelend, ich bekam keinen Bissen mehr runter. "Frustfressen" ist die mittlere Stufe, aber wenn es mir RICHTIG scheiße geht, dann ist mein Magen wie dicht. 

Etwa einen Monat lang konnte ich sogut wie gar nichts mehr essen, mir wurde übel davon, und ich zwang mich, wenigstens über den Tag verteilt mal einen Kakao zu trinken oder ein paar Brocken Studentenfutter zu knabbern. Ich nahm in drei, vier Wochen fast acht Kilo ab. Langsam konnte ich wieder anfangen zu essen, aber nur sehr kleine Mengen, und auf denen kaute ich stundenlang herum. Eine Scheibe Brot konnte schon mal an die Stunde dauern. Ich kam endlich runter auf 70 Kilo. 

Mein Leben pendelte sich wieder ein, ich konnte normal essen. Gerne hätte ich weiter abgenommen. Aber ich esse einfach verdammt gerne. Koche, backe, nasche. Kalorienzählen nervte immer noch, ich führe eh schon genug Listen. Und zusätzlich dazu, dass ich jetzt anfing, mich vegan zu ernähren, wollte ich nicht noch mehr Umstellungen. Irgendwie war ich der Ansicht, dass wenn ich mich gesund ernähre, schon alles irgendwie ins Reine kommt. 

Aber da ich in so kurzer Zeit am Körper spürte, welche Last mir wortwörtlich genommen wurde, war ich geflasht. Treppensteigen fiel leichter. Die Hose ging nicht so schnell kaputt. Klamotten sitzen wieder besser. Ich fühlte mich sportlicher. Die Gelenke taten nicht mehr weh. 

Dass ich abgenommen hatte, ließ einige Menschen aufhorchen. Naht da etwa eine Magersucht? [ironie]Klar, bei 70 kg auf 164 cm ist man ja haarscharf dran, nicht wahr? [/ironie]. Und eine Frau braucht doch ihre Rundungen. Und mein Mann fand meinen Hintern plötzlich nicht mehr ganz so ansprechend. Außerdem kamen öfter Sprüche wie "boah, sag bloß nicht, dass Du abgenommen hast, dann fühl ich mich ja richtig mies, weil ich müsste auch. Nee, erzähl mir das bloß nicht". Also nix mit "Freude teilen und sich gegenseitig motivieren". 

Und dann fing auch noch Erzaehlmirnix plötzlich an, ständig auf Dicke zu bashen. So kam es mir jedenfalls vor. Cartoons, die so schon stimmen. Die dicke Personen aber so darstellten (vermeintlich, da ich ja selbst noch in der Fettlogik steckte), als wären sie einfach nur blind, inkonsequent, naiv und dumm. Ich fühlte mich herabgesetzt. Getroffene Hunde bellen. Gut, "richtig dick" war ich nicht mehr, aber warum tat sie so, als gäbe es außer Kalorienüberschuss keine anderen Gründe für das Dicksein? Meine Vermutung war, dass sie selbst ziemlich dürr war und zu denen gehörten, die sich vor Dicken ekeln. Was für eine Tusse! Was aber nicht so ganz zu stimmen schien, denn ich hatte sie in den Jahren davor als sehr reflektiert und vernünftig erlebt. Und als dann ihr "Outing" kam, war ich baff: sie selbst war all diesen Fehlern erlegen? Sie wog damals 150 Kilo und schreibt nicht über andere, sondern über sich? Und sie wollte nicht bashen, sondern die Augen öffnen? Boah, das tat weh! Weil ich mich selbst wiedererkannte und es noch immer nicht sehen wollte. 

Dann kam mein Outing, innerlich und äußerlich: keinen Bock mehr auf Frausein, endlich dazu stehen. Kerl! Mein Weg wird etwas länger dauern als meist üblich, weil ich hier und da noch ein paar berufliche Dinge erledigen möchte vorher. Aber die Zeit will ich nutzen! 

Okay, Status: dieser Körper hier gefällt mir nicht. Er ist zu dick, er ist der einer Frau. Ihn von selbst zu einem Mann machen geht nicht. Aber bis die Medizin dafür sorgt, dass er meinem Inneren angeglichen wird, kann ich immerhin dafür sorgen, dass er schlank wird. 

Breitere Schultern könnten dafür sorgen, dass die Hüfte nicht mehr so breit wirkt. An mehr Muskeln könnte ich mich vorab schon gewöhnen, denn mit Testo werden sie erstmal wie von selbst wachsen. Wenn ich abnehme, wird auch die Oberweite etwas weniger (nicht im Verhältnis, aber generell). Außerdem möchte ich die Mastektomie nicht mit zuviel Fett am Körper erleben. Keine Ahnung, ob sich das auswirkt. Aber in meinem Kopf geistert die Horrorvorstellung, dass die mich operieren, dann nehme ich ab, und plötzlich sieht es total komisch aus, weil sich der Körper nach der OP verändert dank Muskeln, Fettverteilung und vielleicht Gewichtsabnahme. 

Außerdem sehe ich die Möglichkeit, dass ich äußerlich ein Mann werden darf, als Geschenk. Und ein Geschenk stellt man nicht einfach in die Ecke und tritt es mit Füßen. Warum sollte ich das mit meinem Körper tun? Es ist das, wovon ich träume, seit ich ein kleiner Junge war. Es ist das, was ich immer wollte. Das, wofür ich jeden anderen Wunsch im Leben ganz weit hintenanstelle. Es ist DAS große Ziel.

Je öfter ich Bilder von Transmännern sah, die trainierten, desto neidischer wurde ich. Boah, SO kann ich eines Tages möglicherweise aussehen? Allerdings posteten viele von ihnen Vergleichsbilder aus der Zeit vor- und nach dem Training. Hm, das war mehr als offensichtlich, meine Ausreden funktionierten nicht mehr. 

Erzaelmirnix deckte für mich nach und nach die Fettlogik auf, in die ich selbst immer wieder stolperte. Die Bilder der anderen Transmänner motivierten mich. Und dass ich gelernt hatte, langsam zu essen, führte dazu, dass ich langsam auch Körper und Ernährung in Einklang brachte. 

Auf einmal stellte ich fest, dass ein kleiner Teller weitaus zufriedenstellender sein kann als drei große Portionen. Ich empfand trotz veganer Ernährung und deutlich geringeren Portionen keinen Verzicht. Mein Gewicht zu halten war absolut kein Problem. 

Dass ich dann irgendwann doch anfing mit Kalorienzählen lag an meiner Praktikantin und dem Transmann-Forum. Mit der Praktikantin tauschte ich mich viel aus über Ernährung, freundlich und mit viel Humor stupste sie mit dem Finger immer wieder in meine Kalorienfallen. Und im Forum begann ich mir die Frage zu stellen: was ist mein Ziel, und was bin ich bereit dafür zu tun. Muss ich eventuell das Ziel herunterschrauben oder meine Bereitschaft nach oben? Und wo ist der Punkt, an dem Ziel und Motivation realistisch zusammentreffen? 

Dass ich nicht ab heute täglich ins Studio flitze, war mir klar. Also mein Etappenziel: erstmal etwas beweglicher zu werden und nicht mehr so faul sein. Das Ergebnis könnt Ihr hier in der Rubrik "Sport" nachlesen. Hab mich ziemlich lange davor gedrückt, aber seit zwei, drei Wochen komme ich endlich in die Gänge ... 

Es geht nicht von heute auf morgen. Aber das Kalorienzählen funktioniert, seit Dezember bin ich von 71 Kilo auf inzwischen 65,5 Kilo runter. Durch das Kalorienzählen fällt es mir ziemlich leicht, einige Dinge wegzulassen, zu ersetzen oder mir eben bewusst zu gönnen. 

Von der Umwelt höre ich gelegentlich "mach mir kein schlechtes Gewissen" und "Du musst doch nicht weiter abnehmen, Du siehst toll aus" und "werd bloß nicht magersüchtig". Mein Mann vermisst zwar etwas Masse am Hintern, aber dass er inzwischen wesentlich strammer ist, reizt ihn auch ;-)

Meine größte Angst war eigentlich, dass mein Mann mich nicht mehr attraktiv findet. Das ist nicht der Fall. Ihm ist bewusst, dass ich zwar inzwischen fast Normalgewicht habe, dass da aber noch ziemlich viel unnötiges Fett an mir dran ist. Er unterstützt mich in meinem Vorhaben und kann verstehen, dass ich vor der Angleichung meinen Körper in Form bringen will. Außerdem - ein starker Kerl mit ordentlich Muckis, das gefällt auch ihm ;-)

Meine Hausärztin unterstützt mich auf dem Weg zum Mann, meine vegane Ernährung findet sie super, und dass ich mich endlich sportlich betätige sowieso. Mein Mann liebt mich. Und ich fange an, meinen Körper ebenfalls zu lieben. Was kümmert es mich jetzt noch, wenn irgendwelche Leute mir mein Übergewicht als "normal" und "attraktiv" verkaufen wollen? 

Tja - here I am! 

Habe mich die letzten Monate durch verschiedene Sportarten gewuselt. Konnte mich zu manchem noch nicht aufraffen und habe anderes probiert und verworfen. Aber so langsam bekomme ich Ziel und Plan. Ich spaziere gerne und viel, auch der Crosstrainer wird gelegentlich genutzt. Aber ich möchte vor allem mit Hilfe von Krafttraining ("Fit ohne Geräte" von Mark Lauren) schrittweise Muskulatur aufbauen. Warum Muskulatur wichtig und Cardio alleine wenig effektiv ist, wird bei Erzählmirnix und Mark Lauren  verständlich erklärt ;-)

Der Sport geht voran, ich spüre an meinem Oberkörper langsam Muskeln, die ich gar nicht kannte. Und weil Erzählmirnix die Angst vor dem "Hungermodus" genommen hat, lerne ich immer öfter auf mein Hungergefühl zu hören. Ich bin erstaunt, mit wie wenig Kalorien und Mengen mein Körper zurechtkommt. Wenn ich unter meinem Soll bin, sehe ich aktuell keinen Grund, mir das reinzudrücken. 

Angst, dass ich magersüchtig werden könnte? NEVER! Ein brownie-großes Stückchen "Free From - Millionaires Shortbread" hat 130 Kalorien, und die Dinger könnte ich kiloweise futtern! Ein Löffelchen Erdnussbutter hat 60 kcal, und ich könnte das ganze Glas beim TV nebenbei schlecken. Popcorn und Bier im Kino ist ja quasi obligatorisch. Ein kleines Stück Vego-Schokolade hat 170 Kalorien. Auch könnte ich den grünen Smoothie mit hochkalorischem Obst mixen statt den etwas kalorienärmeren Früchten. Ich liebe Süßigkeiten noch immer, Alsan und Holsteiner Liesl (vegane Butter und Schmalz) würde ich am liebsten löffelweise auf mein Vollkornbrötchen schmieren. Einzig die Vernunft hält mich davon ab ... 

Ich denke, dick zu sein hat immer viele Gründe. Erstmal nur den, dass man dem Körper mehr zuführt als er tatsächlich benötigt. Warum man das tut, DAS hat dann allerdings eine Menge Gründe. Und das Problem ist weniger, die Kalorien zu bekämpfen, sondern diese Fallen erstmal zu erkennen. Das soziale Umfeld, die eigenen Ausreden, die kleinen Sünden zwischendurch. Kalorienüberschuss ist für viele Menschen einfach ein blinder Fleck. 

Das erkläre ich mir damit, dass der menschliche Organismus nach Harmonie strebt. Niemand ist gerne freiwillig dick. Wenn die Wunschvorstellung (gesund, schlank) und der Ist-Zustand sich widersprechen, muss eine Kongruenz hergestellt werden. Mensch sucht sich gerne die einfachste Lösung. 

"Ich muss weniger essen und bewusst auf Kalorien achten" ist sehr anstrengend, vor allem, wenn man sich in diesem Körper so gar nicht nach Sport fühlt. "Es ist normal, dick zu sein, und ich liebe meinen Körper" ist eine wesentlich einfachere Methode. "Ich kann nichts dafür, das liegt an den Umständen, also kann ich nichts ändern" ist auch bequem. Schon ist das Weltbild in Ordnung, die Kongruenz ist hergestellt. Wer an diesem Weltbild rüttelt (zB Erzählmirnix) ist böse und redet wirres Zeug! Und vielleicht wird man ja auch ein wenig bedauert und kann im Büro mitreden, wenn man mal wieder gemeinschaftlich über die sinnlose Diät, die pädophilen Modedesigner und die bösen Gesundheitsapostel lästert.  

Was nun auch der letzte Auslöser war - die Bilder und Diskussionen im Forum, die Aussicht auf meinen männlichen Körper, meine Praktikantin, Erzählmirnix oder einfach das Klick im Kopf ... ich bin jedenfalls dankbar, dass ich endlich begriffen habe, was ich tun muss :-)

2heartedman 17.05.2015, 11.21

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Funny

Und ich bin meiner Ernährungsbraterin jeden Tag auf's neue dankbar, weil sie gewusst hat, was zu tun ist und vor allem, wie es zu tun ist :-)

Meine Güte, deine Schreibe ist der Knaller. Du kannst so fesselnd erzählen, dass ich gar nicht mehr aufhören mag, zu lesen :-)

vom 18.05.2015, 20.53
Antwort von 2heartedman:

Da kannst Du auch dankbar sein, denn so viele Ernährungsberate es gibt, so viele Meinungen gibt es (denn im Endeffekt hat jeder seine eigene Philosophie) ... schön, wenn es bei Dir jetzt auch läuft und Du da Unterstützung hast :-)

*hihi* freut mich, wenn Dir meine Texte gefallen (der hier war ja mal echt lang *seufz*)