Abbinden kam für mich nie infrage. Es hätte bedeutet der Öffentlichkeit zu zeigen, dass ich keine Frau bin. Außerdem ist 85C oder 85D (was weiß ich, welche Größe ich habe? Hat mich nie interessiert) nichts, was man so nebenbei mal verstecken kann, dachte ich. Und zu schlimmsterletzt: Abbinden tut weh. 

Seit Jahren kämpfe ich mit Schmerzen. Wie gesagt, eigenes Thema. Aber seit dem inneren Outing sind diese Schmerzen wie weggeblasen. Löste der Gedanke an Abbinden früher nur jaulende Klagelaute in mir aus, klang es auf einmal realistisch. 

Teure Binder kaufen - online bestellen, welche Größe, und dann passt er nicht, ich bin nicht zufrieden, Stress mit Retour, neeeee. 

Selber aus Miederhöschen basteln, wie manche das erzählen, das klingt mir nach zuviel Handarbeit, außerdem gefällt mir die Idee nicht. 

Sport-BH, igitt, ich hasse BHs, außerdem würde bei einem zu kleinen Sport-BH vermutlich alles an der Seite rausquellen, wie beschämend!

Bandagen. Davon hab ich genügend zu Hause wegen meiner Gelenke. Die könnte ich testen. Das kostet nichts und ist ein erster Versuch. 

Keinen Plan, wie das geht. Aber ich habe es am 22.11. zum ersten Mal versucht. Eine kleine elastische Binde, und die dann fest um meinen Brustkorb und die Brust gewickelt. Fühlte sich ungewohnt an, aber wider Erwarten: WOW! Wo war die Brust hin? Immer noch weit mehr als manche kleinbrüstige Frau, aber deutlich weniger als bisher, keine Monster-Oschis mehr. 

Ich stand vor dem Spiegel und es fühlte sich einfach gut an. T-Shirt drüber, nochmal Blick in den Spiegel. DAS war ich. Wie ich mich schon immer gesehen habe. Auf einmal schien auch mein Gesicht männlicher als zuvor. Ich bin wirklich nicht nah am Wasser gebaut, aber seit ich mich dem Thema Trans geöffnet hatte, passiert es mir häufig, dass gelegentlich Tränen in den Augen stehen, sobald ich beginne, neue Gedanken in mir zuzulassen. Das war so ein Moment. Ruhig, unaufgeregt, friedlich. Und so bewegend. Die Person im Spiegel, das konnte wirklich ich sein! So viele Jahre hatte ich im Spiegel eine fremde Person gesehen, und auf einmal sah ich MICH ... 

Die nächsten Stunden lief ich so zu Hause herum. Allerdings rutschte die Bandage, die Wülste hingen unten raus, ein andermal schob sich alles hoch unter die Achseln, und dann blitzte irgendwo ein Nippel. Nein, das ist kein Dauerzustand! Sofort fuhr ich in die Apotheke, um mir breitere Bandagen zu kaufen. 

Stand im Laden, hinter mir dutzende Leute. Die Apothekerin fragte "Welche Art von Bandagen? Was wollen sie damit binden?" Ich deutete auf meine Brust. Sie, so laut dass selbst die schwerhörige Oma hinterm Diskretionsabstand alles mithören konnte "ah, die Brüste wollen sie abbinden". DANKESCHÖN *verachtender Todesblick*

Sie zeigte mir verschiedene Modelle, ich nahm zwei Bandagen a 12cm x 5m. Zu Hause rannte ich sofort ins Bad und testete. Ließ sich besser binden, hielt straffer und fühlte sich noch einen Tick besser an. Zwei Bandagen hatte ich nur geholt, damit ich eine auswaschen kann, während ich die andere verwende. 

Einige Tage habe ich damit geübt. Wie fest ich binden kann, ob ich weiter oben oder unten ansetze. Wo ich mehr oder weniger Druck verwende. Die Grenze zwischen "krieg keine Luft mehr" und "soviel als möglich soll weg". Die ersten Tage musste ich die Bandagen mehrfach erneuern und zurechtzupfen, inzwischen klappt es auf Anhieb.

Das erste Mal meinen Mann umarmen ohne diese ekligen Fettpolster dazwischen. Das erste Mal beim Mittagsschläfchen ungestört auf dem Bauch liegen. Das erste Mal Rumalbern und Rumhüpfen ohne lästiges Wobbeln. 

Das erste Mal an mir heruntersehen und - oh - mein - Gott! Bin ich wirklich so fett? Ich wusste ja, dass ich ´ne Menge viszerales Fett mit mir rumschleppe, aber ist das wirklich so krass? Na, immerhin habe ich jetzt eine Motivation abzunehmen. Das war vor etwa drei Wochen, und ich habe bereits etwas über ein Kilo abgespeckt, bin stolz auf mich!

Ein paar Tage später dann bin ich das erste Mal in die Öffentlichkeit. Immer noch ein wenig Angst, ob die Bandage auch hält. Ob die Leute mich anstarren. Mein Horror: plötzlich mitten im Supermarkt zu stehen, irgendwo hängt ein Stück der Binde unter meinem Shirt raus, und meine Titten baumeln ohne BH vor der Nase der anderen Kunden. Aber inzwischen klappte das Binden so gut, dass ich mir es zutraute, mich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Da ich noch lebe und hier schreibe - es ist nichts passiert, die Bandage hat gehalten ;-)

Es ist noch immer ein komisches Gefühl ohne BH. Wenn ich mich an der Schulter kratze, dann erschrecke ich und suche den Träger, so als wäre er verrutscht und ich müsse ihn richten. Und auch der Wechsel Arbeit (ohne) - Privat (mit) ist ganz schön lästig. Aber ich habe mich binnen weniger Tage recht gut daran gewöhnt. Es fühlt sich echt und gut an. 

Weil eine Bandage für meine Oberweite etwas kurz ist, habe ich mich dann doch zu ein wenig Handarbeit herabgelassen. Habe die beiden Bandagen zusammengenäht. Seitdem klappt es noch besser, seitdem rutscht auch nichts mehr. Allerdings werde ich langsam übermütig und schnüre immer fester. Aha - DAS sind also die Rückenschmerzen, von denen ich im Forum gelegentlich gelesen habe, aua! Tja, wer schön sein will muss leiden! 

Ich frage mich, was das Abbinden gesundheitlich bewirkt. Aber ich mache mir wenig Sorgen. Denn ich binde nur ein paar Stunden am Tag und am Wochenende. Trotzdem, beim nächsten Besuch der Frauenärztin werde ich das mal ansprechen. 

Bald werde ich mal testen, wie es mit einem richtigen Binder ist. Ich bin schon sehr gespannt ...