two hearted man
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Ausgewählter Beitrag

Blinder Fleck

Wenn ich gefragt werde, ob ich Diskriminierung oder Gewalt in der Vergangenheit erlebt habe, dann ist der erste innere Reflex ein "nein".

Ich wurde niemals verprügelt, geschubst oder beschimpft. Was die körperliche Gewalt betrifft - dies tatsächlich nicht. Was das Beschimpfen betrifft - nur auf den ersten Blick nicht, denn es müssen keine Schimpfworte dabei fallen. 

Mir ist bewusst, dass Diskriminierung und Gewalt viele Ebenen beinhaltet. Für meinen Trans*-Lebenslauf für Gericht und Therapie damals habe ich mir diese Dinge bewusst gemacht und sie benannt. Wenn ich für Studenten oder andere Interviewer Fragen beantworte, dann bin ich mir dieser Punkte ebenfalls bewusst und zähle sie auf. Wenn ich bei den Workshops nach diesen Erfahrungen gefragt werde, weiß ich ebenfalls einiges zu erzählen. 

Aber immer mehr stelle ich fest, dass es die immer gleichen Anekdoten und Geschichten sind. Die, die ich für mich schon zigmal durchgekaut habe. Die, die ich irgendwie schon verarbeitet habe, weil sie sehr offensichtlich waren und es daher leicht fiel, sie zu benennen. 

Davon, dass meine Mutter keinen Kontakt mehr zu mir hat, seitdem ich ihre Provokation gegen mich verbalisiert habe und sie aufforderte, dies zu unterlassen. Oder als ich in der Schule von den Klassenkameraden am Schulhof ausgeschlossen und gemobbt wurde. Wie ich dreimal pro Woche ins Kleid gezwungen wurde. Wie ich von Ärzten und Therapeuten abgewiesen wurde, als ich um Hilfe bat. Und ein paar weitere Erlebnisse dieser Art. 

Dann gibt es da eine Ebene tiefer. Die Ebene, bei der sich das Opfer selbst die Schuld zuschreibt. Oder an sich zweifelt, weil es immer wieder infrage gestellt wird. Die teils subtilen Botschaften der Umwelt, die zeigen "Du bist nicht richtig" oder "so, wie Du bist, kann ich Dich nicht lieben". 

Das können klar formulierte Sätze sein. Das können auch Blicke sein, Gesten, Seufzen. Das können unterlassene Handlungen sein. Oder kleine, beiläufige Verhaltensweisen, die nur in der Summe ein Bild ergeben. Alles Dinge, bei denen die Täter*innen ganz einfach sagen können "das bildest Du Dir ein" oder "stell Dich nicht so an" oder "ich hab doch gar nichts gemacht". Und oft ist sich diese Person nicht einmal bewusst, was sie da gerade getan hat, um den Selbstwert und die Persönlichkeit des Opfers infrage zu stellen. 

Dann sind da noch all die vielen Momente im Leben, für die niemand etwas kann (nicht als Einzelperson an sich), etwa die strukturelle Gewalt allein durch Behörden und Dokumente (hier den Ausweis zeigen, sich dort für etwas registrieren, dort ein Kreuzchen beim Geschlecht), die idR korrigierendes Verhalten beinhalten, falls man sich dem widersetzte. 

Das Thema Gewalt und Diskriminierung ist ein sehr, sehr großes Feld, und das hier aufzugreifen ist einfach zuviel. Ich habe schon Bücher über mehrere hunderte Seiten zu diesem Thema gelesen, wie könnte ich dies in einem knappen Beitrag hier zusammenfassen? 

Anfangs habe ich diese Bücher für mich gelesen. Um mir über mich selbst bewusst zu werden und zu begreifen, wer ich bin und warum ich so lange gewartet habe mit meiner Entscheidung zur Transition. Inzwischen lese ich die Bücher für andere, weil ich teils ehrenamtlich teils beruflich damit arbeite. Zu wissen, wie ICH mich fühle, ist eine Sache. Zu wissen, wie ich andere Menschen in ihrer Situation unterstützen kann, das ist etwas anderes. 

Dennoch bleibt es natürlich nicht aus, dass ich mir während des Lesens über diese Themen immer wieder über mich selbst bewusst werde. Und dabei stelle ich etwas sehr Spannendes fest: 

Die typischen Anekdoten, die zu erzählen ich mir angewöhnt habe, sind schon zu "Selbstläufern" geworden. Ich habe es so oft erzählt, dass ich kaum mehr etwas dabei empfinde. Habe es schon zigmal durchgekaut. Manchmal reagieren die Menschen, die das hören, intensiver als ich selbst. Ja, es kommt tatsächlich vor, dass bei Workshops einzelne Teilnehmer anfangen zu weinen, wenn sie davon hören, und manchmal verlassen einzelne Personen sogar den Raum, obwohl die Schilderung an sich sachlich gehalten ist. Doch das sind sehr emotionale Themen, die manche empfindsamen Menschen sehr erschüttern. Allein der Gedanke, von den eigenen Eltern verstoßen zu werden, löst heftige Ängste aus. Mich berührt das nicht mehr, habe es schon zu oft erzählt und innerlich zu oft durchlebt, der Abstand ist groß genug, es ist Vergangenheit. Es ist einfach nur eine Geschichte, die ich erzähle. 

Aber diese tiefere Ebene, die sich nicht so einfach in eine Geschichte packen lässt, die erwischt mich gelegentlich eiskalt. Ich weiß, dass es diese Dinge gab. Doch irgendwie verdränge ich das immer wieder, es lässt sich nicht so leicht zusammenfassen und erzählen. Ich kann es nicht einmal wirklich benennen. Würde ich jetzt eine solche Situation schildern, dann wäre sogar mein eigener Reflex "ach, das war doch nichts, nur eine blöde Bemerkung, nur ein albernes Spiel, nur eine bürokratische Notwendigkeit".

Doch wenn ich dann in einem Film oder Buch eine solche Szene erlebe, macht es in mir klick. Wenn ich im Fachbuch davon lese, stehen mir plötzlich Tränen in den Augen. Es kommen Erinnerungen hoch an Dinge, die ich am liebsten vergessen möchte. Ich sehe mein altes Ich in einer Situation stehen, die demütigend, entwürdigend, beängstigend, traurig war, und plötzlich kommen all diese Gefühle hoch, die ich damals empfand und die ich damals nicht empfinden durfte, weil sie angeblich "falsch" waren.

Wer aufmerksam liest, stellt in diesem Beitrag auch fest, dass ich anfangs von "ich" geschrieben habe (welche Diskriminierungserfahrungen ich erlebt habe) und dann plötzlich von "Opfer" und "Person" in unpersönlicher Art erzählte. Das habe ich selbst gerade erst während des Korrekturlesens bemerkt. Das sind Dinge, die lasse ich einfach nicht gerne an mich heran. Das sind blinde Flecken, von denen ich weiß und die ich gelegentlich sehe, die dann aber auch ganz schnell wieder weggedrückt werden.

Beim Lesen solcher Fachbücher wird mir bewusst, wie wichtig es ist, dass in Filmen, Büchern, Interviews, Zeitungsartikeln, Öffentlichkeitsaktionen darauf aufmerksam gemacht wird. Dass Fachpersonal (Ärzte, Lehrer, Therapeuten, Polizei, Krankenpfleger, Altenpfleger, Kindergärtner, Beamten in der Verwaltung usw) sensibel geschult wird. Es ist wichtig, diese Dinge nicht kleinzureden oder gar dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben (es könnte diese "Kleinigkeiten" ja ignorieren statt persönlich zu nehmen, es ist halt "empfindlich" und "soll sich nicht so anstellen"). 

Es ist mit diesem Thema so wie auch in vielen anderen Bereichen: wer es selbst nicht kennt, wer es nicht erlebt hat, der kann es nicht nachempfinden. Die Gewalt, die durch vermeintliche Kleinigkeiten ausgeht. Die Angst, die scheinbar harmlose Situationen erzeugen. Die Diskriminierung, die eine einzige kleine Geste ohne gewollt böse Intention beinhalten kann. Das Gefühl, wenn wieder ein kleines Stückchen des eigenen Ich zerbricht, weil jemand anderes es mit Füßen getreten hat ... 

2heartedman 29.11.2019, 14.47

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